Z Sex Forsch 2021; 34(04): 248-250
DOI: 10.1055/a-1669-7387
Buchbesprechungen

Perspektiven der Sexualforschung

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Peer Briken, Hrsg. Perspektiven der Sexualforschung. Gießen: Psychosozial 2019 (Reihe: Beiträge zur Sexualforschung, Bd. 108). 548 Seiten, EUR 54,90 [ 1 ]

„Perspektiven der Sexualforschung“ ist, wie der jetzige Leiter des Instituts für Sexualforschung, Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und Herausgeber im Vorwort ankündigt, „kein gewöhnliches, wissenschaftliches Buch geworden, sondern eines, das auch von persönlichen Erfahrungen und Einblicken erzählt, ein Mosaik der verschiedenen Phasen, Facetten, aber auch Konflikte des Instituts für Sexualforschung über die letzten 60 Jahre“ (S. 17). Es gewährt zugleich einen Einblick in die eng mit dem Hamburger wie auch Frankfurter Institut für Sexualwissenschaft verbundene Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS). Nikolaus Becker, der mit dem dritten Hamburger Institutsleiter Eberhard Schorsch zusammengearbeitet hat, sieht das folgendermaßen: „Einen Beitrag für eine Jubiläumsschrift zu verfassen, gleicht in gewisser Weise dem Eintritt in ein Museum, in dem die Objekte aus der Zeit der Gründungsjahre der Jubilarin bewahrt und ausgestellt werden, aber implizit auch ihr Entwicklungsprozess beleuchtet wird“ (S. 133). Als Rezensent teile ich diese Metapher und bemühe mich, den impliziten Entwicklungsprozess explizit zu machen und die thematische Vielfalt herauszustellen, um den Wert dieses Sammelbands auch für jene Interessent*innen herauszustellen, die nicht unmittelbar mit der sexualwissenschaftlichen Szene befasst sind.

Viel zu lernen ist sicherlich von der kritischen Aufarbeitung der historischen Bezüge zwischen Wissenschaft, Moral und Politik, sozialen Emanzipationsbewegungen und institutionellen sowie persönlichen Karriereinteressen, wie sie in verschiedenen Beiträgen geleistet wird. Das sich gelegentlich daraus ergebende explosive Kräftefeld lässt sich nämlich besonders am Beispiel der Sexualität illustrieren. Der erste Aufsatz des Historikers Moritz Liebeknecht (S. 23 ff.) beschäftigt sich – exemplarisch auf Hans Giese bezogen – genau damit und zeichnet ein differenziertes Bild über den Gründer des Instituts: „In jedem Fall war Hans Giese ein Kind seiner Zeit. Wenngleich er ihr bisweilen hinterherzuhinken schien, war er ihr in vielen Fällen doch entschieden voraus und trug dazu bei, spätere Wandlungsprozesse in die Wege zu leiten“ (S. 42). Leider bezieht sich diese Analyse – „Die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung, Hans Giese und der Wandel der westdeutschen Sexualkultur“ – nur auf das Zeitfenster von 1950 bis in die 1970er-Jahre hinein (S. 23). Der gegenwärtig stark politisierte Diskurs über den Umgang mit Pädophilie in den 1980er- bis 1990er-Jahren wird in seiner historischen Dimension und bezogen auf die Position von Angehörigen der DGfS nur sehr oberflächlich und etwas verschämt klingend angedeutet. So heißt es z. B. in dem persönlichen Rückblick von Hertha Richter-Appelt (S. 189 ff.): „Es wurde aber auch die Meinung vertreten, Sexualität sei etwas für alle von allen, ohne einen deutlichen Unterschied zwischen Kinder- und Erwachsenensexualität zu machen. Nur so war es verständlich, dass es Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung gab, die meinten, Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern sei nicht weiter schädlich, und das Verbot, inklusive der Inzestschranke, nur ein Ausdruck einer repressiven Sexualmoral. Diese Auffassungen sollten sie jedoch später korrigieren“ (S. 198). Sie wurden tatsächlich, so etwa von Eberhard Schorsch 1989, korrigiert und eine ehemalige Honorarkraft, Reinhardt Kleiber, erklärt die damalige Situation in einer Diskussion um die derzeitige Gruppentherapie mit Missbrauchstätern (S. 471 ff.) folgendermaßen: „Das war eine andere Zeit, an die man mit Grausen zurückdenkt.“ Es sei eben eine Zeit gewesen, in der es eben „en vogue war, eine Regression auszuleben. Die aggressiven Anteile wurden nach außen, zum Beispiel in ‚revolutionären‘ Aktionen gegen das System untergebracht. Und in diesem seelischen Zustand der damaligen therapeutischen Gemeinde war deren state of mind der Regression der Pädophilen zu ähnlich. Das hat sich gründlich geändert“ (S. 482). Und dass sich vieles geändert hat, zeigen die diesbezüglichen Beiträge zur sexuellen Missbrauchsthematik in dem Sammelband, explizit in der Gruppendiskussion von Annika Flöter u. a. über „Gruppentherapie bei Nutzern sexueller Missbrauchsabbildungen“ (S. 471 ff.) sowie in dem Text von Safiye Tozdan über „Sexuelle[r]n Kindesmissbrauch durch Frauen“ (S. 491 ff.).

Das vorliegende Buch ist jedoch keine reine Jubiläumsschrift mit den nur für Insider*innen sexualwissenschaftlicher Netzwerke interessanten institutionellen und interpersonellen Anregungsverhältnissen und Verstrickungen. Die werden auch präsentiert, meist verbunden mit Dankesbekundungen an die jeweiligen Instituts- und Projektleitungen, die offenbar weitgehend für eine anregende und wertschätzende Kommunikationskultur gesorgt haben. Das ist nicht selbstverständlich für Universitätsinstitute und erst recht nicht für einen so sperrigen Forschungsgegenstand, der sich wegen seiner bio-psycho-sozialen Grundstruktur, je individuell-identitären Verankerungen sowie emotionalen und normativ-politischen Zuschreibungen nicht einfach wissenschaftlich definieren und bearbeiten lässt. Der historische Aufsatz des ersten Institutsleiters Hans Giese über das sexuelle Selbstportrait eines Künstlers und dessen sexualpsychiatrische Dimensionen (S. 47 ff.) vermittelt einen lebendigen Eindruck davon. Wie sehr sich die kritische Sexualwissenschaft aber dennoch aus verschiedenen Perspektiven um handhabbare Definitionen des Sexuellen und der Sexualitäten bemüht, kommt – je nach thematischem Kontext unterschiedlich – innerhalb der Beiträge von Wilhelm F. Preuss (S. 251 f.), Silja Matthiesen (S. 309) und Katinka Schweizer (S. 346 ff.) exemplarisch zum Ausdruck. Wer darüber hinaus an dem grundsätzlichen wissenschaftstheoretischen Streit zwischen Konstruktivismus und Essentialismus bei der genaueren Bestimmung des sexualwissenschaftlichen „Objekts der Begierde“ interessiert ist, wird dazu in dem Aufsatz eines der jüngeren Institutsmitglieder, Arne Dekker (S. 319 ff.), gut informiert. Überhaupt spielt die Methodik des sexualwissenschaftlichen Forschens in verschiedenen Beiträgen eine große Rolle, explizit in dem Text zur empirischen Sexualforschung von Silja Matthiesen (insbesondere S. 303) wie auch jenem Aufsatz über die Verbindung von „Psychoanalyse und Sexualwissenschaft“ des vierten Institutsleiters Wolfgang Berner (S. 261 ff.). Man habe sich immer einem einseitigen Methodenzwang widersetzt, stellt Berner heraus und betont, dass „der Mut zur Kritik am Aktuellen und zur Mischung der Erkenntnismöglichkeiten am Institut für Sexualforschung schon immer etwas mehr Raum hatte als anderswo“ (S. 278).

Neben diesen themenübergreifenden Perspektiven der Sexualwissenschaft erfahren die Lesenden des überaus anregenden Sammelbands eine Menge über den Umgang der in unterschiedlichen Zeitfenstern der Institutsgeschichte dort therapeutisch tätigen, forschenden oder auch lehrenden Mitarbeiter*innen mit verschiedenen Teilthemen aus Sexualtherapie und Sexualforschung, die in dieser Rezension nicht alle explizit erwähnt werden können. Die enge Verschränkung zwischen Theorie und Praxis ist offenbar ein Markenzeichen des Hamburger Instituts, wie insbesondere in dem Beitrag von Sabine Cassel-Bähr über „Forschen und Heilen“ (S. 223 ff.) zum Ausdruck kommt. Die meisten Mitarbeitenden waren und sind immer noch sowohl therapeutisch und begutachtend als auch forschend tätig und das in vielen Bereichen von Gender und Sexualität, die vor allem in der Anfangszeit, aber auch heute noch unterschiedlich intensiv mit einem Tabu besetzt waren und sind. Neben dem Sexualitätstabu kam hinzu, dass die von Anfang an zentrale forensische Ausrichtung dieser Teileinheit einer Universitätsklinik die Beschäftigung immer mit abweichendem, meist auch als kriminell etikettiertem Verhalten zu tun hatte. Ein besonderes Thema der Forensik ist jenes der Begutachtung im Zusammenhang der gerichtlichen Bewertung von Sexualstraftaten. Hervorzuheben ist in diesem Kontext der sehr informative, biografisch-selbstreflexiv und einfühlsame Aufsatz von Peer Briken (S. 327 ff.). Er endet entsprechend mit der Einsicht: „Ich muss dazu auch in mir einen Resonanzraum für Abgründe zulassen, finden und verstehen können. Dabei muss mir klar sein, dass ich es nie nur mit Tätern oder Opfern zu tun habe, nicht mit nur guten oder bösen Menschen, sondern mit solchen, denen die Integration ihrer Objektbeziehungserfahrungen nicht gelungen ist und in denen die Grenzen, die die meisten von uns haben, nicht ausreichend existieren“ (S. 338). Überhaupt ist die Arbeit im Hamburger Institut mit einer gehörigen Portion von Selbstreflexivität und den zu ihrer Beförderung notwendigen Instrumenten wie Intervision und Supervision gekennzeichnet. Insbesondere angesichts des Bemühens um Dialoge zwischen sozialen Bewegungen und gesellschaftlichen Initiativen einerseits und dem therapeutischen und wissenschaftlichen Tun andererseits (Andreas Hill: „Wozu Sexualwissenschaft?“, S. 282 ff.) werden die Themen „Überidentifikation und Partizipation“ (Timo O. Nieder, S. 363 ff.) sehr ernst genommen. Ein Kapitel in diesem Beitrag hat die Überschrift: „Wie die Angst vor dem Fremden die Nähe abwehrt“ (S. 370 f.), ein Thema, mit dem viele aktuelle sexualpolitische Vorgänge erschlossen werden können.

„Unter uns sprachen wir manchmal etwas salopp von den Sparten ‚Sex, Crime und Gender‘“, schreibt Wilhelm F. Preuss in seinem Beitrag (S. 248), der sich eigentlich zentral mit Transgender beschäftigt, gleichzeitig aber auf Erfahrungswerten der Therapie und Resozialisierung von Klient*innen aus allen drei Bereichen beruht. Die starke thematische Konzentration auf Transsexualität kam automatisch verschiedenen Forschungsbefunden zum übergreifenden Thema von „Sexualwissenschaft und Geschlecht“ zugute, die in dem gleichnamigen Beitrag von Hertha Richter-Appelt (S. 189 ff.) entfaltet werden. Der lesenswerte Aufsatz von Sabine Cassel-Bähr „Über das Mütterliche im Eigenen“ (S. 233 ff.) erfüllt nicht nur das Versprechen des Untertitels, etwas zur „Weibliche[n] Sexualität im Spannungsfeld von Perversion und Sinnlichkeit“ beizutragen, sondern ist aufgrund der profunden klinischen Erfahrungen der Autorin auch gleichzeitig eine mutige Auseinandersetzung mit dem Queer-Ansatz und seinen manchmal extrem anmutenden konstruktivistischen Aussagen.

Natürlich spielt das Thema der sexuellen Gewalt und des sexuellen Missbrauchs im Hamburger Institut und damit auch in der Veröffentlichung keine unbedeutende Rolle. Einen erfrischend undogmatischen Umgang mit weiblichem und männlichem Begehren kann dem Beitrag von Verena Klein über „Frauen und ihre sexuellen Spielräume“ (S. 277 ff.) entnommen werden. Er endet mit der Botschaft an die feministische Sexualforschung: „Sexuelles Vergnügen sollte beiden Geschlechtern zustehen – wobei weder die männliche noch die weibliche Sexualität dabei abgewertet werden sollte“ (S. 385). Als Pädagoge hat mich natürlich besonders gefreut, dass die Autorin insbesondere den Beitrag der sexualpädagogischen Praxis zu diesem Ziel hervorgehoben hat (S. 381). Für ein besseres Verständnis über den Zusammenhang von Sexualität und Gewalt sollte der ertragreiche und therapeutisch wie theoretisch gehaltvolle Aufsatz von Fritjof von Franqué über „Was ist sexuelle Gewalt?“ (S. 403 ff.) gelesen werden. Er fundiert die These, dass die sexuellen Intentionen bei allen Formen sexueller Gewalt eine Rolle spielen und dass auch bei dem Spezialfall von sexualisierter Gewalt das Fehlen von sexueller Motivation sehr unwahrscheinlich ist (S. 424 ff.). Hier zeigt sich der Vorteil eines Instituts, das sowohl die Sexualforschung als auch die Forensik mit ihrer Konzentration auf Gewaltphänomene miteinander vereint. Pädagog*innen sehen sich durch die Ausführungen von Franqué in der präventiven Bedeutung von sexueller Bildung bei der Eindämmung von sexueller und sexualisierter Gewalt bestätigt, einer wesentlichen Aufgabe des Erziehungs- und Bildungswesens.

Insgesamt wird die Pädagogik, insbesondere die Sexualpädagogik, bei den inter- bzw. transpädagogischen Bemühungen der kritischen Sexualwissenschaft erst in den letzten Jahren zunehmend beachtet. „Ist sie“ (die Sexualwissenschaft) – fragt Katinka Schweizer in ihrem Aufsatz „Wege des Verstehens“ (S. 341 ff.) – „eine Eklektikerin, die Soziologie, Medizin, Psychologie, Geschichte, Pädagogik, Recht, Philosophie, Gender- und Queer Studies und sogar die Theologie vereinnahmt ?“(S. 356) An dieser Stelle ist noch viel Nachdenken über „Multi-, Inter- oder auch Transdisziplinarität“ erforderlich, ein Unterfangen, das immer weniger gelingen kann, wenn sich die Erforschung der Sexualität – wie aktuell zu befürchten ist – in die Einzeldisziplinen mit ihren jeweils unterschiedlichen Fachkulturen zurückzieht. Wie sehr die Pädagogik z. B. von der sexualwissenschaftlichen Forschung profitieren kann, wird in dem hier besprochenen Sammelband deutlich. Das gilt für viele der bereits herausgestellten Beiträge, explizit aber für den aufschlussreichen Text über „Primäre und sekundäre Sexualforscher“ von Ulrich Clement (S. 179 ff.), der zur Reflexion der persönlichen Motive anregt, die hinter der professionellen Beschäftigung mit Sexualität liegen können. Widerspruch ist jedoch berechtigt, wenn Sexualpädagogik als eine angewandte Sexualwissenschaft konzipiert wird, wie das Maika Böhm in ihrem Beitrag (S. 521 ff.) versucht. Ein solches Vorhaben tradiert ein lang gehegtes Vorurteil der Medizin und mancher anderen Disziplin, die Pädagogik sei eine praktische Handlungswissenschaft ohne eigene erziehungs- und bildungswissenschaftliche Rahmung. Die für sexualpädagogische Grundsatzfragen notwendigen definitorischen, anthropologischen, gesellschafts- und bildungstheoretischen sowie institutionellen und didaktischen Klärungen sind aber nur zu einem kleinen Bruchteil von der Sexualwissenschaft zu erwarten. Richtig ist allerdings, dass die nüchternen und normativ weniger belasteten „Perspektiven der der Sexualforschung“ für pädagogische Theorie und Praxis eine hilfreiche Ergänzung darstellen. Wer im Hamburger Institut arbeiten durfte, ist davon zu Recht begeistert worden.

Uwe Sielert (Kiel)



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Article published online:
07 December 2021

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