NOTARZT 2022; 38(01): 1-2
DOI: 10.1055/a-1716-3905
Editorial

Wenn es nichts zu retten gibt...

Andreas Bohn

Stellen Sie sich vor: Sie und Ihr Team werden zu einem todkranken Krebspatienten gerufen. Der Patient ist somnolent, atmet laut rasselnd und dyspnoeisch. Er ist kachektisch. Bei der körperlichen Untersuchung zeigen sich eine Tachykardie (130/min), eine Hypotonie (75/50 mmHg) und eine kritisch erniedrigte SpO2 von 78%.

Die Familienangehörigen sind verzweifelt, ein Krankenhausaufenthalt wurde erst vor 2 Tagen beendet, der Patient hat sich immer gewünscht, im Kreis der Familie sterben zu können und doch: Die auffälligen Atemgeräusche besorgen die Angehörigen, sodass der Rettungsdienst gerufen wurde. Eine Anbindung an ein Palliativteam besteht nicht.

Der Rettungsdienst will „retten“ und kommt doch regelmäßig in Situationen, in denen es nichts mehr zu retten gibt, sondern in denen es gilt, das Sterben würdig und möglichst wenig unangenehm zu gestalten. Bei Palliativpatienten und in Situationen am Ende des Lebens treten Notfälle regelmäßig auf. Aufgrund unzureichender Strukturen der Palliativversorgung wird oft der Rettungsdienst gerufen, obwohl dies eigentlich nicht zu seinen Kernkompetenzen gehört und er die erforderliche Versorgung im häuslichen Umfeld nicht gestalten kann. Darüber hinaus ist der Rettungsdienst im Bereich der palliativen Notfälle oft nicht ausreichend geschult. Dies kann zu unerwünschten und unsinnigen Krankenhauseinweisungen führen und in direktem Gegensatz zu den Wünschen des Patienten stehen. Deshalb gilt es, in solchen Einsätzen den „Retter-Modus“ zu verlassen und „umzuschalten“ auf eine palliative Sicht der Dinge.

Fast immer liegt die beste Lösung in der engen Vernetzung des Rettungsdienstes mit ambulanten und stationären palliativen Strukturen. Optimalerweise haben Rettungsdienste ein Netzwerk, von dem Patienten am Lebensende aufgefangen werden können – auch dann, wenn nachts und am Wochenende alles spontan organisiert werden muss. Nicht überall lassen sich solche Strukturen organisieren, aber einen Versuch ist es immer wert, denn der Rettungsdienst „lebt“ von der Kooperation mit anderen Fachdiensten wie der Polizei, der psychosozialen Notfallversorgung, der Feuerwehr und eben auch der Palliativmedizin.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert das Wesen der Palliativmedizin so (WHO definition of palliative care. http://www.who.int/cancer/palliative/definition/en/, Heruntergeladen am 27.11.2021,):

Palliativmedizin …

… bietet Linderung von Schmerzen und anderen belastenden Symptomen.

… bejaht das Leben und betrachtet das Sterben als einen normalen Prozess.

… zielt weder darauf ab, den Tod zu beschleunigen noch ihn hinauszuzögern.

… bezieht die psychologischen und spirituellen Aspekte der Patientenbetreuung mit ein.

… bietet ein Unterstützungssystem an, um den Patienten zu helfen, so aktiv wie möglich bis zum Tod zu leben, und hilft den Familien dabei.

… verbessert die Lebensqualität des Patienten und kann auch den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen.

Um in palliativen Situationen eine Versorgung zu gestalten, benötigen Notärztinnen und Notärzte spezielle Kenntnisse in Bezug auf palliativmedizinische Hilfe, erforderliche psychosoziale Unterstützung, ethische Aspekte und die Berücksichtigung rechtlicher Aspekte. Auch Lebenserfahrung schadet sicher nicht.

Gleich 2 Originalarbeiten in diesem Heft widmen sich dem Thema der Versorgung am Lebensende und versprechen gewinnbringende Lektüre. Vor allem aber zeigen die Arbeiten uns, dass auch die Versorgung von Palliativpatienten, optimalerweise in enger Zusammenarbeit zwischen Rettungs- und Palliativteams, erfüllend sein kann – auch wenn man dazu den liebgewonnenen „Retter-Modus“ verlassen muss.

Andreas Bohn

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Article published online:
25 February 2022

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