Kardiologie up2date 2022; 18(01): 11
DOI: 10.1055/a-1747-7003
Studienreferate

Kommentar zu „‚Baby-ASS‘ ohne Nachteile“

Dirk Sibbing

Im Rahmen der Sekundärprävention bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen gehört eine in der Regel lebenslange Gabe von ASS zu den zentralen Säulen der medikamentösen Therapie. Während die Effektivität der Therapie im Rahmen zahlreicher Studien klar belegt werden konnte [1], gibt es bezüglich der „optimalen Dosis“ teils widersprüchliche Ergebnisse und dementsprechend seit vielen Jahren kontroverse Diskussionen. Die „Unschärfe“ in Bezug auf die optimale ASS-Dosierung spiegelt sich auch auf der Ebene der Leitlinien verschiedener kardiologischer Fachgesellschaften wider: Die aktuellen Leitlinien der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) empfehlen eine vergleichsweise niedrige Dosis (75 bis 100 mg täglich) [2], während sich die Leitlinien der amerikanischen Fachgesellschaften (ACC/AHA) nicht festlegen möchten und daher eine sehr breite Therapiespanne von 81 bis 325 mg ASS täglich vorschlagen [3].

Aktuelle Daten der randomisierten Studie Aspirin Dosing: A Patient-Centric Trial Assessing Benefits and Long-Term Effectiveness (ADAPTABLE), die jüngst im Rahmen des Jahreskongresses des American College of Cardiology (ACC 21) vorgestellt und parallel im New England Journal of Medicine publiziert wurden, zeigten keinerlei Unterschiede in puncto Effektivität oder Sicherheit einer niedrigen (81 mg) vs. eine hohe (325 mg) ASS-Dosis.

Für die Praxis lässt sich somit klar ableiten, dass eine niedrig dosierte ASS-Therapie mit einer Dosis von ≤ 100 mg/täglich effektiv und sicher ist. Höhere Dosierungen sollten in der Dauertherapie nicht verwendet werden, und zwar auch deswegen nicht, weil die Compliance der Patienten unter höheren Dosierungen in ADAPTABLE und auch im klinischen Alltag deutlich reduziert ist. Tatsächlich verbleibt die hohe Cross-over-Rate (> 41%) von der hohen zur niedrigen Dosis als wichtigste Limitation der Studie. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass die erhobenen Ergebnisse dadurch signifikant beeinflusst wurden.

Bemerkenswert an der ADAPTABLE-Studie ist v. a. der pragmatische, ökonomische und innovative Charakter mit virtueller webbasierter Einverständniserklärung, Visiten und Event-Adjudizierung. Durch ADAPTABLE wurde somit gezeigt, wie Studien im Bereich der kardiovaskulären Medizin in Zukunft pragmatisch und effektiv konzipiert werden können. Damit ergibt sich die Möglichkeit, dringende klinische Fragestellungen zügig und fokussiert zu beantworten.

Auch nach ADAPTABLE besteht sicherlich weiterer Forschungsbedarf für die Effektivität und Sicherheit höherer ASS-Dosierungen bei adipösen Patienten (BMI-adaptierte Dosierung) und bei Hochrisikokollektiven wie Patienten mit koronarer Mehrgefäßerkrankung und multiplen kardiovaskulären Risikofaktoren. Evidenzbasierte Therapiekonzepte favorisieren derzeit im Kollektiv der Patienten mit hohem thrombotischem und niedrigem Blutungsrisiko keine Erhöhung der ASS-Dosis, sondern vielmehr eine duale antithrombozytäre Therapie (ASS + X) mit einer niedrigen Dosis ASS und Hinzunahme von Rivaroxaban (2,5 mg 2 × täglich) oder eines P2Y12-Antagonisten wie z. B. Ticagrelor, Clopidogrel oder Prasugrel [2].



Publication History

Article published online:
28 March 2022

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