Geburtshilfe Frauenheilkd 2022; 82(04): 368-371
DOI: 10.1055/a-1765-5149
GebFra Magazin
Geschichte der Gynäkologie

Vergessene und verdrängte Geschichte(n)

Die Nordostdeutsche Gesellschaft für Gynäkologie in Ostpreußen 1902–1944
Andreas D. Ebert
1   Praxis für Frauengesundheit, Gynäkologie und Geburtshilfe, Berlin, Deutschland
,
Matthias David
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Wissenschaftliche Gesellschaften spielten im 19. und auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert für die Präsentation, Diskussion und Verbreitung neuer Erkenntnisse eine wichtige Rolle. Diese Entwicklung begann im 1. Drittel des 19. Jahrhunderts mit dem Übergang von der naturphilosophischen zur naturwissenschaftlichen Medizin. In Deutschland entstanden vor allem in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche geburtshilflich-gynäkologische Gesellschaften, gegründet und dominiert durch die Vertreter der „regionalen“ Universitätskliniken. Vorbild dafür war die 1844 gegründete Gesellschaft für Geburtshülfe in Berlin [1] [2].

Auch in Ostpreußen wäre die breite fachliche Wirksamkeit der Universitäts-Frauenklinik Königsberg auf die niedergelassenen Ärzte der Provinz Ostpreußen ohne die Gründung der Ost-und Westpreußischen Gesellschaft für Gynäkologie 1902 unter Georg Winter (1856–1946) nicht denkbar [3] [4] [5]. Die konstituierende Gründungssitzung fand am 22. November 1902 im Auditorium der königlichen Universitäts-Frauenklinik Königsberg statt. 30 von 39 Gründungsmitgliedern nahmen daran teil ([Tab. 1]). Die folgenden Sitzungen hielt man überwiegend in Königsberg ab, doch man reiste auch gern, so nach Danzig, wohin der stellvertretende Vorsitzende Rudolf Koestlin einlud [3]. Ab 1905 legte man fest, dass eine Sitzung probeweise in Bromberg stattfinden solle und ab 1908 tagte die Gesellschaft dann mindestens 1-mal pro Sitzungsperiode in der Provinz Posen [3]. Posen gehörte aber weder zu Ostpreußen noch zu Westpreußen ([Abb. 1]). Das führte letztlich am 20. Juni 1908 auch zur Umbenennung der „West- und Ostpreußischen Gesellschaft für Gynäkologie“ in „Nordostdeutsche Gesellschaft für Gynäkologie“ [3]. Während des Ersten Weltkrieges kam das wissenschaftliche Leben der Nordostdeutschen Gesellschaft für Gynäkologie völlig zum Erliegen, da auch zahlreiche Frauenärzte zur Armee einberufen wurden [6]. Die Wirren der Nachkriegszeit führten dazu, dass der Vorsitzende Winter ([Abb. 2] a) die Gesellschaft erst am 26. Februar 1921 wieder zu einer wissenschaftlichen Sitzung einladen konnte [3]. In seiner Begrüßungsansprache erinnerte er „an die Zeit der wissenschaftlichen Blüte der Nordostdeutschen Gesellschaft f. Gyn. und Geb. [sic!] vor dem Kriege und an die Bedeutungslosigkeit unseres Fachs im Kriege. Der Krieg hat uns doch einige wissenschaftliche Bereicherungen gebracht, z. B. durch die Untersuchungen über das Konzeptionsoptimum, über die Kriegsamenorrhoe, durch bevölkerungspolitische Arbeiten, durch unsere ausgedehnten, im Kriege gesammelten Erfahrungen über die Strahlentherapie. Schwerer sind aber die üblen Folgen, welcher der Krieg auf die gesunde und kranke weibliche Bevölkerung gehabt hat.“ [3]. Winter verwies anhand eigener Zahlen auf den Geburtenrückgang, die Zunahme von Fehlgeburten, kriminellen Schwangerschaftsabbrüchen, von Geschlechtskrankheiten, inoperablen Uteruskarzinomen und des Puerperalfiebers. Diese Probleme sah er als aktuelle Aufgaben für die Gesellschaft an. „Ferner empfiehlt W[inter]. eine Beteiligung an bevölkerungspolitischen Aufgaben, eine wissenschaftliche Bearbeitung von Berufstraumen und Berufskrankheiten, wie sie die heutige Erwerbsstellung der Frau mit sich bringt.“ [3]. Noch unter der Schirmherrschaft Winters hielt mit Eva Krieger zum ersten Mal eine Frau einen Vortrag vor der Gesellschaft [3].

Tab. 1 Die Vorstände der NOGG 1902–1944. Daten nach [3].

Amtszeit des Vorsitzenden

Vorsitzender

weitere Vorstandsmitglieder

besondere Ereignisse

1902–1904

1904–1906

1906–1908

Georg Winter

Rudolf Koestlin (Danzig) II. Vorsitzender; Ernst Schröder (Königsberg) Schriftführer; Semon (Danzig) Kassenführer

Gründung- und Konsolidierungsphase der West- und Ostpreußischen Gesellschaft

1908–1910

Georg Winter

Semon (Danzig) I. stellv. Vorsitzender; Lange (Posen) II. stellv. Vorsitzender; E. Schröder (Königsberg) I. Schriftführer; R. Lampe (Bromberg) II. Schriftführer; H. Fuchs (Danzig) Kassenführer

1908 Umbenennung in Nordostdeutsche Gesellschaft

1910–1912

Georg Winter

gleiche Vorstandsmitglieder

1912–1914

Georg Winter

Fuchs (Danzig) I. stellv. Vorsitzender; Lange (Posen) II. stellv. Vorsitzender; E. Schröder (Königsberg) I. Schriftführer; R. Lampe (Bromberg) II. Schriftführer; Semon (Königsberg) Kassenführer

Erster Weltkrieg 1914–1918

keine Sitzungen bis 1921

1922–1923

Georg Winter

Fuchs, stellv. Vorsitzender; E. Schroeder, Schriftführer; Semon Kassenführer

1923–1925

Georg Winter

gleiche Vorstandsmitglieder

17.2.1924 Dr. Ernst Schroeder verstorben, Semon übernimmt sein Amt; Winter wird 1924 als Universitätsprofessor emeritiert

1925–1929

Wilhelm Zangemeister

Neue Vorstandmitglieder werden bis auf Franz Unterberger (Schriftführer) nicht mehr näher erwähnt.

1925 Winter zum Ehrenvorsitzenden gewählt; 1929 Wechsel des Publikationsorgans; 28.1.1928 Festsitzung zum 25. Jubiläum der Gesellschaft

1929

Wilhelm Zangemeister

„Die Vorstandswahl ergibt Wiederwahl des bisherigen Vorstandes“

1930–1938

Hans Fuchs

F. Unterberger wird weiter als Schriftführer geführt, des weiteren Athenstädt (1933), K. Fink (1934)

Keine weiteren Angaben zu Vorstandswahlen nachweisbar; Am 15.7.1933 werden die Vorstandsmitglieder der Nordwestdeutschen Gesellschaft für Gynäkologie, H. Runge (Greifswald) und S. Stephan (Stettin) 85. Jubiläumssitzung am 30.6.1934 mit Vorträgen von A. Butenandt (Danzig), G.A. Wagner (Berlin) und C. Clauberg (Königsberg) zu endokrinologischen Forschungsthemen. B. Ottow (Berlin) referierte über Erbgesundheitsgerichtsbarkeit und eugenische Sterilisationen.

1938–1944

Felix von Mikulicz-Radecki

Schriftführer: K. Fink (bis 1938), E. Wittrin (1938–1940)

1939 (Beginn des Zweiten Weltkrieges), 1941 (Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion) und 1942 keine Sitzungsprotokoll nachweisbar.

H. Kolbow (1943–1944)

Letztes publiziertes Protokoll einer Sitzung in Königsberg vom 27.02.1943 mit einem Nachruf auf H. Fuchs und Referaten von 3 Ärztinnen.

Letzte Sitzung „im Juni 1944 in Posen“

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Abb. 1 Die Tagungsorte der Nordostdeutschen Gesellschaft für Gynäkologie im Kaiserreich, in der Weimarer Republik bzw. im Dritten Reich bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges (bis 1937). Die NOGG versammelte sich in Königsberg, Danzig, Bromberg und Posen (bis 1918) sowie in Königsberg, Danzig, Insterburg und Posen (1921–1944). Die Provinz Posen gehörte bis 1918 zum deutschen Kaiserreich (siehe www.verfassunggebende-versammlung-bundesstaat-preussen.de/preußen).
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Abb. 2 Die Vorsitzenden der Nordostdeutschen Gesellschaft für Gynäkologie 1902–1945: a Georg Winter (1856–1946), b Wilhelm Zangemeister (1871–1930), c Hans Fuchs (1873–1942), d Felix von Mikulicz-Radecki (1892–1966). Quelle: a gedruckt im Eckstein Verlag, ca. 1910, Sammlung Prof. Ebert; b Zbl Gynäkol 1930; 54: 705–717; c Arch Gynak 1942; 174: 351–356; d © Universitätbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin, Porträtsammlung: Felix von Mikulicz-Radecki [rerif]

Nach der Emeritierung Winters [3] [7] ging die Leitung der Gesellschaft auf seinen Schüler Wilhelm Zangemeister (1871–1930) über [8] [9] [10]. Mit der Wahl des neuen Königsberger Ordinarius Zangemeister ([Abb. 2] b) am 28. November 1925 zum Vorsitzenden änderte sich auch die Publikationstätigkeit der Gesellschaft: die Protokolle waren nicht mehr so detailliert wie zuvor. Persönliches war ihm nicht so wichtig, Vorstandsmitglieder wurden namentlich nicht mehr genannt, die Teilnehmerzahlen wurden nicht mehr dokumentiert [3]. Das wissenschaftliche Niveau blieb jedoch hoch [3]. Als Zangemeister plötzlich starb [10], wurde Hans Fuchs (1873–1942), der Direktor der Danziger Frauenklinik, zum Vorsitzenden der Gesellschaft gewählt [3]. Fuchs ([Abb. 2] c) war auch der letzte Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie, der 1941 den Wiener Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie organisierte und leitete [11] [12] [13] [14]. Der Zweite Weltkrieg bedeutete letztlich das Ende der Gesellschaft. Die Sitzungen wurden nicht mehr regelmäßig publiziert. Die „fehlenden“ Sitzungsprotokolle der Gesellschaft ([Tab. 1]) wurden entweder nie eingereicht, nie gedruckt oder aber gingen bereits als Manuskript verloren [3]. Für alle Publikationen galt spätestens ab 15. Mai 1943 der Aufruf des Reichsgesundheitsführers Leonardo Conti über wissenschaftliche Veröffentlichungen: „Im Kriege ist es aus verschiedenen Gründen nicht möglich, in der medizinischen Fachpresse alle Arbeiten im gewünschten Umfange mit ihrem vollen Ergebnis zu veröffentlichen. Dadurch entstehen unter anderem auch für den ärztlichen Wissenschaftler und Forscher Schwierigkeiten, z. B. bezüglich seines Prioritätsrechtes. Aus all diesen Gründen bitte ich, alle Originalmanuskripte unter Beifügung sämtlicher Unterlagen und eines kurzen Referates – soweit sie nicht in der medizinischen Fachpresse erscheinen können – an meine Dienststelle (Berlin W35, Tiergartenstr. 15) zu senden. (…)“ [15].

Nach den Erinnerungen Felix v. Mikulicz-Radeckis (1892–1966) [16], dem letzten Vorsitzenden, hat die Gesellschaft 98 Sitzungen erlebt, die letzte wohl noch im Juni 1944 in Posen [3] [17] [18]. Dort war seit 1941 Willy Schulz (1900–1969), SS-Mitglied und ab 1952 Chefarzt der Frauenklinik Hamburg-Altona, Fachordinarius der „Reichsuniversität Posen“. Der Vermerk v. Mikulicz-Radeckis ([Abb. 2] d) „im Juni 1944“ ist deshalb von Interesse, weil am 22. Juni 1944 die Rote Armee mit ihrer Operation „Bagration“ begann, die zum Zusammenbruch der gesamten Heeresgruppe Mitte der Wehrmacht führte [19] [20]. Posen selbst wurde aber erst im 23. Februar 1945 von den sowjetischen Truppen eingenommen [21].

Die Nordostdeutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe war ein Produkt ihrer Zeit. Ihre Bedeutung für unsere Fachwissenschaft sowie die Aus- und Weiterbildung im Kaiserreich, der Weimarer Republik und auch im Dritten Reich war für die Provinzen Ostpreußen und Posen hoch. Viele ihrer Mitglieder wurden nach dem Krieg in anderen Fachgesellschaften Nachkriegsdeutschlands aktiv [22] [23]. Die Nordostdeutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe ging mit den Provinzen West- und Ostpreußen sowie Posen in der Geschichte Ostdeutschlands unter und sollte doch nicht ganz vergessen werden.



Publication History

Article published online:
05 April 2022

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  • Literatur

  • 1 Gauss CJ, Wilde B. Die deutschen Geburtshelferschulen. München-Gräfelfingen: Werk-Verlag Dr. Edmund Banaschewski; 1956: 57-59
  • 2 Die Berliner Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie 1844–1994. Ebert AD, Weitzel H-K. Berlin, New York: De Gruyter; 1994
  • 3 Ebert AD. Chronik der Nordostdeutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe 1902–1945. Berlin-Lübars: Eigenes Manuskript; 2022: 1-43
  • 4 Ebert AD. Die Geschichte der Universität-Frauenklinik Königsberg 1793–1945. Düren: Shaker; 2022. (in Druck)
  • 5 Ebert AD, David M. „Es muss gelingen!“ – Georg Winter (1856–1946) und die Anfänge der „Krebsbekämpfung durch Früherfassung“ in Ostpreußen. Geburtshilfe Frauenheilkd 2016; 76: 235-238
  • 6 Ebert AD, David M. 1914–1918. Die deutschen Gynäkologen und der Erste Weltkrieg. Geburtshilfe Frauenheilkd 2014; 74: 829-834
  • 7 Winter G. Mein wissenschaftliches Lebenswerk. Z Geburtshilfe Gynakol 1944; 126: 121-181
  • 8 Esch P. Wilhelm Zangemeister †. Zentralbl Gynakol 1930; 54: 705-717
  • 9 Hammerschlag S. Wilhelm Zangemeister†. Monatsschr Geburtsh Gynäkol 1930; 84: 470-472
  • 10 Ebert AD, David M. Wilhelm Zangemeister (1871–1930) und die 2 Handgriffe nach Zangemeister. Geburtshilfe Frauenheilkd 2013; 73: 399-401
  • 11 Deutsches Gynäkologen-Verzeichnis. Stoeckel W, Michelsson F. 1. Leipzig: Johann Ambrosius Barth; 1928
  • 12 Deutsches Gynäkologen-Verzeichnis. Stoeckel W, Michelsson F. 2. Leipzig: Johann Ambrosius Barth; 1939
  • 13 Wagner GA, Fuchs G. Professor Hans Fuchs†. Arch Gynäkol 1942; 174: 351-356
  • 14 Ludwig H. (ed.) Die Reden. Heidelberg, Berlin: Springer; 1999: 173-177
  • 15 Conti L. Aufruf des Reichsgesundheitsführers über wissenschaftliche Veröffentlichungen. Zbl Gynäkol 1943; 67: 832
  • 16 David M. Felix von Mikulicz-Radecki. In: David M, Ebert AD. Berühmte Frauenärzte in Berlin. Frankfurt am Main: Mabuse; 2007: 169-179
  • 17 von Mikulicz-Radecki F. Geschichte der Universitäts-Frauenklinik Königsberg i.P.. Manuskript
  • 18 von Mikulicz-Radecki F. Als Hochschullehrer in Ostpreußen. Die Ostpreußische Arztfamilie. Sommerrundbrief 1957
  • 19 Frieser K-H. Der Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte im Sommer 1944. In: Frieser K-H. Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Band 8. München: Deutsche Verlagsanstalt; 2007: 526-603
  • 20 von Tippelskirch K. Geschichte des 2. Weltkrieges. 2. Bonn: Athenäum-Verlag; 1956
  • 21 Schwendemann H, Dietsche W. Hitlers Schloß. Die „Führerresidenz“ in Posen. Berlin: Ch. Links; 2003: 154-158
  • 22 Dietel H, Heinrich J. Norddeutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe. Stralsund: Hanse-Druck-Medien; 2004: 14-18
  • 23 Kirchhoff H, Polacesk R. Gynäkologen deutscher Sprache. Stuttgart: Thieme; 1960