Endo-Praxis 2022; 38(03): 109
DOI: 10.1055/a-1776-2470
Editorial

Behandlung der akuten Blinddarmentzündung: Chirurgisch, antibiotisch oder sogar endoskopisch?

Rainer Duchmann

Ich habe in den 80er Jahren Medizin studiert und stelle mir gerade eine Prüfungssituation in der dermaligen Zeit vor, in der ein Student auf die Frage nach der Therapie der akuten Appendizitis antwortet „Wir haben je nach Situation verschiedene Optionen. Der Patient könnte als Standard operiert, aber auch antibiotisch behandelt werden. Ob eine Endoskopie zur erweiterten Diagnostik, Entfernung eines Fecolithen und ggf. internen Drainage in Frage kommt, wird derzeit wissenschaftlich untersucht“. Der Student sollte heute sicher bestehen, damals wohl kaum.

Die Behandlung der akuten Appendicitis wurde bereits durch die Weiterentwicklung des chirurgischen Eingriffs mit Wechsel vom jahrzehntelangen Standard des offenen abdominellen Eingriffs hin zur laparoskopischen Appendektomie verbessert. Die Patienten profitieren von niedrigerer Morbidität, kürzerer Krankenhausdauer und geringerem postoperativen Trauma und Schmerzen. Zudem wurden in den letzten Jahren eine Vielzahl von Studien publiziert, welche die Indikation zur alleinigen chirurgischen Therapie in Frage stellen und eine Therapie mit Antibiotika in die Diskussion bringen. Hierdurch ist ein Wandel im Management der akuten Appendicitis, weg von der rein chirurgischen Therapie und hin zu einem ggf. komplexeren Management in Bewegung gekommen und hat Einzug in aktuelle internationale chirurgische Leitlinien (World J Emerg Surg 15: 27; 2020) und nationale Empfehlungen (https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/088-011l_S1_Therapie-akute-Appendizitis-bei-Erwachsenen_2021-12.pdf) gehalten.

Die akute Appendicitis und die akute Sigmadivertikulitis besitzen zweifellos pathogenetische und klinische Unterschiede, z. B. die Immunfunktion der Appendix, Besonderheiten des Kontinenzapparats, unterschiedlicher Darminhalt im Zökum vs. Sigma, unterschiedliche Altersverteilung der Erkrankten. Dennoch gewinnt man den Eindruck, dass Diagnostik und Therapie der akuten Appendicitis und der akuten Sigmadivertikulitis, beides lokale, akut entzündliche Erkrankungen des Kolon, sich in letzter Zeit in zahlreichen relevanten Aspekten annähern. Dies betrifft z. B. den Stellenwert einer guten Querschnittbildgebung, einer guten klinischen, stadienabhängigen Differenzierung und daran ausgerichteter differenzierter Indikation zur chirurgischen Resektion, Antibiotikatherapie und interventionellen Drainage.

Dieser Wandel wird auch in den oben zitierten Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV) reflektiert:

EMPFEHLUNG 12 Eine unkomplizierte Appendizitis kann bei Erwachsenen primär antibiotisch behandelt werden. Die Effektivität der sofortigen chirurgischen Therapie bleibt jedoch höher.

Und wo kommt die Endoskopie ins Spiel?

Nach aktueller Auffassung wird eine Appendizitis am Ehesten durch Obstruktion des Appendixlumens verursacht. Faecolithen werden als Ursache für 40% der „normalen“, 60% der gangränösen, nicht-perforierten und 90% der perforierten Appendizitis gefunden. Das Vorhandensein eines Appendicoliths führt zudem mit hoher Wahrscheinlichkeit zum konservativen Therapieversagen. Verschiedene Arbeitsgruppen, vorwiegend aus China, evaluieren daher den Stellenwert einer endoskopischen Therapie, endoscopic retrograde appendicitis therapy (ERAT), zur Darstellung der lokalen Verhältnisse in der Appendix (Stenose, Appendicolith) und endoskopischen Konkrementextraktion mit Körbchen oder Ballon bzw. Stenting des Lumens. Dies geschieht in aktuellen Berichten unter Verwendung eines Koloskops und eines single operator cholangioskops (SOC) oder anderer digitaler Komponenten (Endoscopy 2022; 54: 396–400 und E296–E297). Es wird spannend sein, die weitere Entwicklung zu verfolgen.

Im Laufe der Zeit erleben wir immer wieder, dass Gewissheiten, die hinterfragt werden, zu vermeintlichen Gewissheiten werden. Manche Dogmen, auf neue Weise und tiefer geprüft, behaupten sich, andere geraten ins Wanken, werden relativiert, erhalten Alternativen, oder fallen ganz.

Bleiben wir neugierig!

Ihr Rainer Duchmann



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Article published online:
12 September 2022

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