Gesundheitswesen 2022; 84(07): 563-565
DOI: 10.1055/a-1855-9639
Editorial

Dual Use

Manfred Wildner

Mit Dual Use – Doppelverwendungsfähigkeit – werden Technologien bezeichnet, für welche sowohl eine zivile als auch eine militärische Nutzung möglich ist. Mit einem Messer kann man beispielsweise Brot schneiden oder einen Menschen töten. Ein anderes, die Wissenschaftsgeschichte prägendes Beispiel ist das vom italienischen Arzt und Chemiker Ascanio Sobrero 1847 erfundene Nitroglycerin. Diese nicht patentierte Erfindung wurde nach einer persönlichen Begegnung von Sobrero mit Alfred Nobel zunächst von diesem als Grundlage von Sprengstoff mit großem wirtschaftlichem Erfolg verwendet: Als Dynamit im zivilen Bergbau und seit 1875 in Form der Sprenggelatine auch im militärischen Bereich. Kurze Zeit später erfolgte erneut eine zivile, diesmal medizinische Verwendung durch den englischen Arzt William Murrell, der 1879 Nitroglycerin erfolgreich sublingual zur Behandlung von Angina pectoris-Anfällen verordnete. Als Alfred Nobels Bruder Ludvig 1888 starb, titelte eine Pariser Zeitung versehentlich, dass „der Kaufmann des Todes“ nun selbst tot sei. Dieser irrtümliche Nachruf rüttelte Alfred Nobel auf und aus einem langjährigen Gedankenaustausch mit der Friedensaktivistin Bertha von Suttner heraus, welche wiederum einer österreichischen Offiziersfamilie entstammte, stiftete der kinderlose Alfred Nobel 1895, ein Jahr vor seinem Tod, mit seinem Vermögen die nach ihm benannten Preise [1]. Bertha von Suttner erhielt 1905, im fünften Jahr der Preisvergaben, den Friedensnobelpreis – u. a. mit Bezug zu ihrem viel gelesenen Antikriegsroman „Die Waffen nieder!“ (1889). Nobel hatte allerdings noch 1894 das schwedische Rüstungsunternehmen Bofors erworben. Die sich in diesen Sachverhalten spiegelnden Irrungen und Wirrungen, das Gemenge von Krieg und Frieden, von zerstörerischer Energie und sich erhebender Humanität: Vielleicht eher die Regel als ein Sonderfall?

Die unschöne Realität hinter dieser Feststellung hat die Menschheit seither nicht verlassen. Krieg lässt sich nach dem preußischen Militärtheoretiker von Clausewitz (1780–1831) bestimmen als eine „bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, als „ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen“. Clausewitz fährt fort: „Die Gewalt rüstet sich mit den Erfindungen der Künste und Wissenschaften aus, um der Gewalt zu begegnen“ [2]. Diese Gewalt und ihre „Erfindungen und Künste“ hat seither an Komplexität und teilweise perverser Subtilität dazugewonnen. Die Elemente neuer Kriegsführung werden mit dem Akronym 5D beschrieben: Neben das herkömmliche Zwangsmittel der militärischen Destruktion treten vorbereitend und begleitend Desinformation, Deception (Täuschung), gesellschaftliche Disruption und Destabilisierung. Die zugehörigen Technologien sind in hohem Maß doppelverwendungsfähig: Massenmediale Kommunikation und politische Aktionen im öffentlichen Raum, digitale Bots, Trojaner und Trolle im Cyberspace und perspektivisch auch innovative, cutting-edge Biotechnologien [3]. Letztere beinhalten die über die Biowaffenkonvention der Vereinten Nationen von 1971 völkerrechtlich geächteten biologischen Schadorganismen und die damit verbundenen physischen, emotionalen und sozialen Auswirkungen [4] [5] [6]. In der Fachwelt werden in diesem Bereich zunehmend auch Entwicklungen diskutiert, bei welchen mit Hilfe der synthetischen Biologie aus bestehenden Erregern neue Erreger mit veränderten Eigenschaften bezüglich Infektiosität und Virulenz erzeugt werden.

Auch wenn derartige Forschungen zu militärischen Zwecken von der Biowaffenkonvention strikt untersagt sind, eröffnet der Dual Use ziviler Forschung hier Forschungsperspektiven mit durchaus doppelgesichtigem Charakter. Diese können z. B. die Gestalt von gain-of-function (GOF) oder loss-of-function-Experimenten haben, welche dem Zweck dienen, mögliche natürliche genetische Veränderungen mikrobieller Strukturen mit Auswirkungen auf die Übertragbarkeit oder die Virulenz forschend vorwegzunehmen. Mithin geht es hierbei auch um die künstliche Erschaffung potentiell pandemischer Pathogene (PPP). Derartige GOF/PPP-Forschungsansätze wurden in den USA bereits kritisch diskutiert und dort 2014 zunächst ausgesetzt [7]. Die kritische Diskussion führte 2017 zu Empfehlungen, welche die Prinzipien einer ethisch vertretbaren GOF/PPP-Forschung zu formulieren versuchen, u. a. in Hinblick auf die zukünftige Entwicklung von Impfstoffen [8]. Trotz der Biowaffen-Rahmenkonvention und zugehöriger Empfehlungen gehen geostrategische Überlegungen durchaus von einem Einsatz solcher künstlich veränderten, enhanced PPP im Rahmen eines bewaffneten Konflikts als Teil einer 5D-Kriegsführung durch einen potentiellen Gegner aus – eine Thematik, die auch unter dem Begriff der Biosecurity behandelt wird [3]. Darunter wird der Schutz vor einem Missbrauch von biologischen Organismen bzw. der Möglichkeiten der synthetischen Biologie in Bezug auf Menschen, Tiere und Pflanzen bzw. das Ökosystem insgesamt verstanden, einschließlich auch terroristischer Motive. Es scheint, dass die Corona-Pandemie gesellschaftliche Sicherheiten erschüttert und Prozesse auf eine Weise beschleunigt hat, dass das Morgen schneller zum Heute wird als einem lieb ist [9].

A propos Coronaviren: Auch wenn die Genese des SARS-CoV-2 Virus unklar bleibt und eine natürliche evolutionsbiologisch wirksame Mutation in Verbindung mit einer primären oder sekundären Ausbreitung auf dem Wet Market im chinesischen Wuhan von vielen als wahrscheinlichster Entstehungsweg betrachtet wird, gibt es doch auch anhaltend Stimmen, welche auf die Möglichkeit eines Laborunfalls verweisen. Dies wäre zunächst eine Thematik der arbeitsplatzbezogenen Biosafety. Ob in diesem Zusammenhang auch weitergehende Aspekte einer Einschleppung und Ausbreitung von Schadorganismen, mithin der Biosecurity, eine Rolle spielen, ist spekulativ [10] [11] [12] [13]. Zu wünschen wäre in jedem Fall, dass dem schon 2016 getätigten Aufruf zur verantwortlichen internationalen Kooperation in der Wissenschaftsgemeinde Gehör geschenkt wird und der großen Verantwortung bei der Forschung mit PPP-Erregern durch Transparenz und jederzeit überprüfbare adäquate Schutzmaßnahmen international Rechnung getragen wird (siehe u. a. [14] [15]). An der vordersten wissenschaftlichen Front stehende cutting-edge Forschung in Deutschland ist hier mit einzubeziehen.

Anstrengungen zu einer offenen, transparenten, der Humanität verpflichteten und damit potentiell Nationen-verbindenden Wissenschaft macht im gegebenen Rahmen auch die vorliegende Ausgabe, mit einer zur Vielfalt des Lebens korrespondierenden Themenvielfalt: Zur Bedeutung der Aerosolübertragung für das Infektionsgeschehen von SARS-CoV-2, zum Impfstatus von geflüchteten Kindern und den damit verbundenen Herausforderungen an das ambulante Regelversorgungssystem, zur digitalen Transformation des Gesundheitswesens als Beitrag des DNVF und zur hausärztlichen Medizin im digitalen Zeitalter, zu medizintechnischen Großgeräten 20 Jahre nach Aufhebung der Standortplanung, zu Berufsidentitäten von Pflegefachkräften in Krisensituationen am Beispiel der Sars-CoV-2-Pandemie, zur Zufriedenheit mit der Unterkunft und der psychischen Gesundheit Geflüchteter in Deutschland, zur Arzneimittelversorgung für Menschen in prekären Lebenssituationen, zum Einfluss von Spiritualität/Religiosität (S/R) auf die Arbeitszufriedenheit und die Stressbelastung und zu den unterschiedlichen Hintergründen einer Nutzung der Strukturen der Notfallversorgung (englischsprachig) und – last not least – zur Vorbereitung auf Anschläge mit hochtoxischen Substanzen im öffentlichen Raum.

Um am Ende den Anfang noch einmal aufzugreifen: Dual Use hat bei genauerem Hinsehen zwei Perspektiven – zum einen die militärische und ggf. auch terroristisch motivierte Nutzung ziviler Erkenntnisse, zum anderen aber auch die zivile Nutzung militärischer Ressourcen und Programme. Die militärische Nutzung ziviler Erkenntnisse soll sich im internationalen Verständnis zivilisierter Gesellschaften und im Einklang mit der Biowaffenkonvention auf den Schutz der an einem Konflikt beteiligten menschlichen Gesellschaften und sonstigen biologischen und Ökosysteme fokussieren, wobei diese Bereiche sinnvollerweise als in systemischem Zusammenhang zueinanderstehend zu sehen sind. Gleiches gilt sinngemäß für andere Technologien mit Potential zur Massenvernichtung im Bereich der Chemie und der Nuklearphysik, welche ebenfalls Gegenstand zivilisierender internationaler Abkommen sind (s.a. [16] [17]). Doch lässt sich auf die Zivilisiertheit menschlicher Gesellschaften vertrauen? Geschichte und auch unser aktuelles Zeitgeschehen lassen anderes vermuten und rufen nach einer allgemeinen (pandemic) preparedness ebenso wie nach einer bestmöglichen zivilen Kontrolle der militärischen „Erfindungen und Künste“: Als Einhegung und bestenfalls auch Transformation solcher Technologien in Richtung von Schutz und Heilung. Dass solche Überlegungen als visionäre Hoffnungen und damit als Menschheitsaufgabe eine lange Tradition haben, zeigt uns ein beinahe drei Jahrtausende altes Sprachbild zum Dual Use eines biblischen Propheten: „Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Kein Volk wird gegen das andere das Schwert erheben, und sie werden fortan nicht mehr lernen, Krieg zu führen“ (Micha 4,1–4). Dies sollte nicht nur als endzeitliche Hoffnung verstanden werden, sondern für jede Generation auch als Aufruf zu entschiedenen friedenbewahrenden Anstrengungen: Es gilt für uns und nicht nur unsere Kinder, das heißt für uns als Menschheit, einen gerechten Frieden zu gewinnen, nicht einen Krieg.



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Article published online:
14 July 2022

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