Z Sex Forsch 2022; 35(03): 185-186
DOI: 10.1055/a-1873-3443
Buchbesprechungen

Entrechtung durch Schutz. Streitschrift gegen das Prostituiertenschutzgesetz

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Doña Carmen, Hrsg. Entrechtung durch Schutz. Streitschrift gegen das Prostituiertenschutzgesetz. Frankfurt/M.: DVS 2019. 648 Seiten, EUR 19,90

Die Streitschrift gegen das „Gesetz zur Regulierung des Prostitutionsgewerbes sowie zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen“, das von CDU/CSU und SPD am 7. Juli 2016 beschlossen und am 1. Juli 2017 in Kraft getreten ist, erörtert sehr ausführlich und auf hohem Niveau die Etappen der Entstehung des sogenannten Prostituiertenschutzgesetzes von 2013 bis 2017 und warum die Kritik an diesem Gesetz nicht in einem erfolgreichen Widerstand mündete.

Verfasst und herausgegeben ist die Streitschrift von Doña Carmen e. V., einem 1998 gegründeten und in Frankfurt am Main ansässigen Verein für soziale und politische Rechte von Prostituierten, der seit Jahren geleitet und inspiriert wird von der ebenso klugen wie mutigen und erfolgreichen Juanita Henning. Zu deren Großtaten gehören öffentliche Diskussionen mit prominenten Kritiker*innen und Verteidiger*innen, die Organisation der Kritiker*innen des neuen Prostitutionsgesetzes einschließlich der Eingaben an höchste deutsche und europäische Gerichte sowie nicht zuletzt die Herausgabe der Hurenzeitung „La Muchacha“, deren Name bereits einen weiteren Skandal benennt.

Denn viele Sexarbeiterinnen sind zu uns aus armen Ländern gekommen, wollen durch Prostitution ihre Familien ernähren, sind oft rechtlos unserer Willkür ausgeliefert. Seit Jahrzehnten holen wir sie, benutzen sie, versetzen sie in Angst und Schrecken. Abgrundtief verlogene Politiker hetzten in den letzten Jahrzehnten Hunderte von jungen Männern als Polizisten durch die Bordelle und marschierten selbst fürs Fernsehen mit erigiertem Zeigefinger durchs Milieu. Hätten sie etwas Wirksames gegen Mädchenhandel und Zwangsprostitution machen wollen, hätten sie den illegalen Frauen eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis erteilen müssen, ja, sie hätten ihnen sogar eine neue Identität einräumen müssen, um auf diesem Wege, sofern vorhanden, an die drahtziehenden Mädchenhändler heranzukommen. Schließlich aber schoben sie die Ärmsten der Armen ab, auf dass neues Frischfleisch ins herrlich bigotte Deutschland komme – mit Menschenhandel oder ohne. Wird der Menschenhandel mit Sexarbeiterinnen aus armen Ländern genauer untersucht, was wir vom Frankfurter Institut für Sexualwissenschaft aus vor Jahrzehnten getan haben, zeigt sich, wie die Frauen in ein System der Zwänge geraten, dem sie in der Regel nicht mehr entrinnen können, es sei denn als „Madame“, das heißt als Teil des ausbeutenden Systems, das in Europa Milliarden Euro erwirtschaften soll.

Wer meine Schriften der letzten Jahrzehnte kennt, weiß, wie ich die Prostitution durchgehend in einer Gesellschaft ohne Ars erotica eingeschätzt habe: Die Gesellschaft, in der wir leben und arbeiten, ist prostitutiver Natur. Zu unserer Lebensweise gehört Prostitution wie das Amen zur Kirche. Wir sind alle käuflich und werden gekauft. Manche körperlich, andere seelisch, viele „moralisch“ und alle geistig. Die, die überhaupt noch am Gesellschaftsleben teilnehmen dürfen, bieten sich an, geben sich preis, gehen auf den Strich. Ekel und Abscheu aber werden auf die sogenannten Nutten projiziert. Verpönt ist nicht die geistige Prostitution, der alle mehr oder weniger zwangsläufig jeden Tag erliegen, sondern das Vermieten des Körpers in einer Gesellschaft, die keine Ars erotica zustande gebracht hat. Umso ausgestreckter ist der Zeigefinger, der auf die gerichtet wird, die es ohne einen Kleister aus Nächstenliebe, Sozialarbeit, hehrer Berufung oder Humanität tun.

Dabei haben einige Denker*innen begriffen, dass bei uns Humanität eine allgemeine strategische Installation ist, die exakt das verhindert, was sie zu bewirken vorgibt: ein gigantisches Ablenkungsmanöver, das es gestattet, Prostitution ohne das Gefühl der Heuchelei zu verachten, obgleich doch das Realprinzip der Käuflichkeit einem allgemeinen Verdikt unterliegen müsste, weil es keine Moral und keine Humanität kennt, nur Preis und Profit. Und so ist im Grunde, halten wir uns an die herrschende Logik, gegen die Sexarbeit so viel einzuwenden wie gegen die Realität, nicht mehr und nicht weniger.

In einer Gesellschaft, in der prinzipiell alles käuflich ist und in der auch tatsächlich alles gekauft wird, was nicht niet- und nagelfest ist, in einer Gesellschaft, die alles darauf abklopft, ob es benutzt oder verwertet werden kann, ausgerechnet in einer solchen Gesellschaft wird die „käufliche Liebe“ zum Skandal. Die Prostitution wird als Ablaufrinne benutzt, die die Reinheit der Paläste garantiert – so formulierten es die Kirchenväter, und so lautet noch immer die Weisheit der Schulsoziologie. Tatsächlich koexistieren bei uns Prostitution und Ehe, isoliertes Reizmoment und übers ganze Leben geworfene Liebe. Die eine Form zieht Dasein und Berechtigung aus der anderen. Auf der Wahrheit besteht dann jede für sich allein – eine Wahrheit, die es nicht gibt, weil Geld in unserer Gesellschaft das Medium ist, das Generalität beanspruchen kann, nicht Anstand, Moral, Charité, Wahrheit. Trotzdem gestattet es die Prostitution anderen Sexualformen, sich selbst als hochwertig misszuverstehen. Ihre bloße Existenz gibt Beziehung und Reiz das Recht, sich als nichtprostitutiv zu gebärden. Je geldgieriger und brutaler die Prostitutionsformen sind oder erscheinen, desto selbstloser und mitfühlender stehen all die anderen da: Ehe, feste Beziehung, Partnertausch, Gruppensex usw. Die kleine Wahrheit der niederen Prostitution aber ist, dass unsere Lust ohne Tabu und Verbot, ohne Angst und Erniedrigung nicht gedacht werden kann. Deshalb fördern die Moralist*innen das Dirnenwesen, wenn sie die Prostitution verrufen und verbannen. Sie sind wirklich die amtierenden Dienstmänner der kleinbürgerlichen Sexualideologie, die sich in der Vergangenheit durch Pathologisierung und Folter, durch Mord und Totschlag bis auf die Knochen für immer diskreditiert hat.

Für die Prostituierten-Schutzorganisation Doña Carmen e. V. ist die Bezeichnung des neuen Gesetzes als „Prostituiertenschutzgesetz“ so etwas wie „Neusprech/Orwell 2.0“. Kritisch und ausführlich diskutiert werden 31 Einwände gegen die gängige Schutz-Behauptung, 20 Argumente gegen die Anmeldepflicht einer Sexarbeit, 13 Gründe gegen eine gesundheitliche Zwangsberatung, 20 Gründe für ein eindeutiges „Nein“ zur „Erlaubnispflicht für Prostitutionsgewerbe“, 21 Einwände gegen den Kondomzwang sowie die Politik der Zwangskondomisierung. Selbst kritische Sexualwissenschaftler*innen sind vom Umfang und der Überzeugungskraft der Argumente beeindruckt. Die überzeugenden Einwände sind so umfangreich, dass sie hier nur angedeutet werden können.

Nach Doña Carmen spiegele der Gesetzgeber falsche Tatsachen vor und vertrete eine eigene Schutzideologie. Die bisherigen Kritiker*innen des neuen Gesetzes wie zum Beispiel der Deutsche Juristinnenbund e. V., der Deutsche Frauenrat – Lobby der Frauen in Deutschland e. V., die Deutsche Aidshilfe e. V., Amnesty International Deutschland e. V., Bündnis 90/Die Grünen und der Bundesverband sexuelle Dienstleistungen e. V. (BSD) hätten die dem Gesetz zugrundeliegende „Schutz-Ideologie“ gar nicht oder nicht ausreichend durchschaut. Das sei der wesentliche Grund, warum die bisherige Kritik an dem neuen Gesetz gescheitert ist.

Hinzukommt aus Sicht von Doña Carmen e. V. eine paradox klingende „Entrechtung“ von Sexarbeiterinnen „durch Schutz“, wie bereits der Titel des Buches erklärt. Diese Entrechtung erfolge komplex auf drei einander verstärkenden Ebenen der Stigmatisierung und Diskriminierung, der rechtlichen Ungleichbehandlung im Vergleich mit anderen Berufstätigen sowie einer massiven und unverhältnismäßigen Einschränkung von Grundrechten. Mit einfachen Worten: Sexarbeiterinnen sind generell schlechter gestellt. Es geht bei dieser Benachteiligung um Grundrechte wie Art. 2 GG (Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit), Art. 12 GG (Recht auf Berufsfreiheit) und Art. 13 GG (Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung). Doña Carmen erörtert dieses grundsätzliche Problem auf 100 Seiten des Buches (S. 477–578). Das Bundesverfassungsgericht hat traurigerweise diese Überlegungen nicht ernst genommen. Dank einer weiteren Initiative von Doña Carmen e. V. wurden diese Bedenken dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg zur Entscheidung vorgelegt. Dieser lehnte es jedoch ab, sich mit der Klage gegen das Prostituiertenschutzgesetz zu befassen.

Die von Doña Carmen herausgegebene Streitschrift „Entrechtung durch Schutz“ ist die umfangreichste und überzeugendste Kritik an dem unseligen sogenannten Prostituiertenschutzgesetz. Sie kämpft in unserer anterotischen Gesellschaft für „eine rückhaltlose Anerkennung von Prostitution“ (S. 191). Tatsächlich leisten Prostituierte aus der Sicht der Kritischen Sexualwissenschaft allein angesichts der jeden Tag aggressiv Sex suchenden jungen Männer eine Friedensarbeit. Der eigentliche Skandal in unserer anterotischen Kultur ist, dass die Prostitution nichts mit spielerischem Vergnügen und fantastischer Kunst zu tun hat, sondern harte Arbeit und kaltes Geschäft in einem Milieu allseitiger Ausbeutung ist. Denn die Verhältnisse, in denen wir leben und arbeiten, sind prostitutiver Natur. Vor allem unseren Normopath*innen und sittigen Politiker*innen sei aus einem besseren Schauspiel zugerufen: Was geißelt ihr die Hure, peitscht euch selbst!

Die kleinbürgerlichen Sexualideolog*innen, die ich gerne Normopath*innen nenne, beleidigen tagein, tagaus Frauen mit niederen Blicken. Sie inszenieren ein sexistisches Standgericht nach dem anderen, stiften überall zu moralischer und geistiger Prostitution an und sorgen sich um die Würde jener Frauen, die es körperlich tun. Sie setzen weibliche Körperteile in der Werbung ein und sind betroffen, wenn sich einer so darauf stürzt, wie sie es gerne hätten. Sie lassen sich von Flick und Flack Bargeld in den Smoking schieben und nennen den schwer verdienten Euro der Prostituierten schmutzig. Die Dirne wird oft wie ein Ding behandelt, doch der Filmstar, der sich auf Geheiß des Produzenten alle Zähne ziehen lässt, ist zum Rohstoff geworden. Wie sollte entschieden werden, wer entwürdigter ist? Meint einer über sein Triebleben nichts als die reine Wahrheit zu sagen, ist er nicht von dieser Welt, hat schon geleugnet. Würdelos aber ist jener Politiker, der sich minderjährige Mädchen vom Straßenstrich an einen verschwiegenen Ort bringen lässt, um gleichzeitig öffentlich die Unantastbarkeit der Ehe zu beschwören. Wer so normal gestört ist, der sollte schweigen, wenn es um Anstand und Sitte geht.

Volkmar Sigusch (Frankfurt am Main)



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Article published online:
06 September 2022

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