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DOI: 10.1055/a-1875-3098
„Zähne putzen auf einem Bein reicht nicht aus“
Bericht vom 9. Jahreskongress OSINSTITUT ortho & sportDrei Blöcke, 9 Vorträge, 10 Referenten und die Erkenntnis, dass es für ein gutes Gleichgewicht „mehr braucht als Zähneputzen auf einem Bein“ (Prof. Lars Donath). So lief der 9. Jahreskongress des OSINSTITUT ortho & sport in der Sportschule Oberhaching ab. Themenschwerpunkt war in diesem Jahr „Motor Control“.
Motor Control – was ist das eigentlich? Motorische Kontrolle ist alles, was mit Bewegung und Bewegungskontrolle zu tun hat. Dies stellte Christine Hamilton zum Auftakt der eintägigen Veranstaltung in ihrer praktischen Einführung heraus. Die renommierte Physiotherapeutin betonte, dass für jede Bewegung und die damit einhergehende motorische Kontrolle stets zwei Grundbedürfnisse unseres Gehirns befriedigt werden müssen. Zum einen möchte das Gehirn möglichst ökonomisch und energieschonend arbeiten, zum andern möchte es zugleich den Körper schützen. Daher nutzt der Körper den Feedforward-Mechanismus des Gehirns. Bewegungen werden vor der Ausführung geplant, wodurch es zu einer Aktivierung der beteiligten Muskulatur vor der eigentlichen Bewegung kommt.
Auch Frank Diemer bezog sich in seinem Vortrag zur motorischen Kontrolle des Schultergürtels auf den Feedforward-Mechanismus ([ Abb. 1 ]). Er zeigte, dass der Mechanismus an der Schulter ebenfalls vorhanden ist. Im Vergleich zur Wirbelsäule kann bei der Rekrutierung aber nicht nach „lokaler“ und „globaler Muskulatur“ unterschieden werden. Die Muskeln der Rotatorenmanschette zeigen vielmehr je nach Anforderung spezifische Reaktionen, eine hohe Kokontraktion und damit einen variablen Feedforward-Mechanismus.
Diemer vermittelte anhand umfassender Evidenz zur Bewegungsqualität der Schulter sowie an einem Fallbeispiel die Feinheiten bei der konservativen Rehabilitation einer Skapuladyskinesie. Eine Skapuladyskinesie muss übrigens keine Pathologie sein, sondern sie kann auch andere Ursachen haben, wie der Referent bemerkte.
Matthias Keller und Dr. Eduard Kurz rückten die Bewegungsqualität bei der Kontrolle der Beinachsen in den Vordergrund. Sie zeigten auf, dass es bei der Beurteilung der Bewegungsqualität klare Limitationen gibt – und untermauerten ihre Aussagen mit einem aktuellen Review. Eine defizitäre Bewegungsqualität ist keine Pathologie und die Ergebnisse einer individuellen Untersuchung sollten wohlformuliert an den Patienten kommuniziert werden. Zudem müssen die Umstände in die Beurteilung einbezogen werden: Art der Bewegungen (high-threshold vs. low-threshold); Risikoabschätzung (z. B. Bewegungsqualität bei einem Unverletzten im Gegensatz zu einem Patienten im Rahmen einer Rehabilitation).
Im Gleichgewicht – wissenschaftliche Betrachtung Im zweiten Block erhielten die Teilnehmer Einblicke in die aktuelle Evidenz zum Thema Motor Control. Prof. Dr. Wolfgang Taube und Prof. Dr. Lars Donath ([ Abb. 2 ]) erläuterten die (anatomischen) Hintergründe der Gleichgewichtsregulation und die Vorteile von Gleichgewichtstraining für unterschiedliche Populationen. Sie zeigten, dass ein Gleichgewichtstraining die posturale Kontrolle verbessert. Verletzungen und Stürze können reduziert werden, die Explosivkraft kann zunehmen. Das Training sollte dafür fordernd, abwechslungsreich und multimodal aufgebaut werden, weil spezifische Übungen immer nur die damit trainierten Fähigkeiten verbessern.
PD Dr. Daniel Niederer widmete sich dem chronischen unspezifischen Rückenschmerz und dessen Therapie. Feste Säulen der Patientenbetreuung sollten die Bewegungstherapie sowie die Psychoedukation sein, ergänzend können manualtherapeutische Interventionen genutzt werden. So multifaktoriell wie die Genese dieses Krankheitsbildes ist, sollte in der Therapie kein „One size fits all“-Ansatz gewählt werden. Entsprechend sollten Patientensubgruppen erstellt werden.
Einfach praktisch Im letzten Block des Tages dominierte die Praxis. Personal Coach Christopher Herrmann stellte Grundprinzipien des Bewegungscoachings vor. Im Zentrum: der „Constraints-Led Approach“ (CLA), angelehnt an „Newell‘s Model of Constraints“. Menschliches Verhalten wird von individuellen und umweltbezogenen Faktoren beeinflusst. Durch gezielte Veränderung der Trainingsumgebung kann man Bewegungen anleiten. Solche „Constraints“ (umweltbezogene Faktoren) helfen Patienten wie Leitplanken dabei, geforderte Bewegungen gut auszuführen. „Constraints“ können zum Beispiel Boxen und Stühle sein, die den Freiheitsgrad einer Bewegung vorgeben. Im Vordergrund dieses Ansatzes steht vor allem, die Selbstorganisation des Körpers zu fördern.
Dr. Daniel Kadlec plädierte in seinem Beitrag für eine vereinfachte Betrachtungsweise des sportartspezifischen Agilitätstrainings. Die Definition von Agilität sei in den letzten Jahren zwar differenzierter, aber auch deutlich komplexer geworden. Es gehe darum, die externe Belastung zu reduzieren und durch angepasstes Athletiktraining die interne Belastbarkeit zu erhöhen, um Verletzungen möglichst vorzubeugen. „Es reicht nicht aus, den Athleten stärker zu machen, die PS müssen auch auf die Straße gebracht werden!“, so Kadlec. Dies sollte vor allem durch sportartspezifische progressive „Drills“ erfolgen.
Progressive „Drills“ zeigte auch Dennis Wellm, Athletiktrainer der Fraport Skyliners. In seinem Vortrag wurde klar, dass Spitzensportler eine deutlich höhere Genauigkeit und kürzere motorische Reaktionszeiten als Amateure haben. Außerdem können Spitzenathleten Spielsituationen antizipieren und sich so einen Vorteil auf dem Spielfeld verschaffen. Wie solche Fähigkeiten in der Praxis trainiert werden, konnten die Teilnehmer*innen anschließend zum Abschluss des Kongresses selbst ausprobieren.
Julia Luger, Denis Overlöper, Nils Borgstedt
Publication History
Article published online:
05 September 2022
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany