Heilpflanzen 2023; 3(01): 1
DOI: 10.1055/a-1929-2016
Editorial

„ Wir leben Heilpflanzen! “

Liebe Leserinnen, liebe Leser!
Christian Böser

Von meiner Oma habe ich an dieser Stelle schon einmal geschrieben. Und Sie werden sicher nicht das letzte Mal von ihr lesen. Denn sie ist es, der ich mein Faible für Heilpflanzen und Gärten verdanke.

Meine Oma war das, was man heute eine Selbstversorgerin nennt – wie die meisten aus der Generation, die den 2. Weltkrieg als Erwachsene und die anschließende Not miterlebt haben. Sie lebte mit meiner Mutter und ihren beiden Söhnen im ländlichen Raum und baute in ihrem großen Garten alles selbst an – Obst, Gemüse, Kräuter, Blumen, natürlich Heilpflanzen.

Besonders in Erinnerung geblieben ist mir ein Sommertag als Sechsjähriger. Ich lief damals in Omas Garten umher und riss Pflanzen aus der Erde, bis ich ihren missmutigen Blick im Nacken spürte. „Was machst Du da?“, fragte sie. „Unkraut jäten“, antwortete ich. Denn das hatte ich einige Tage zuvor von unserem Nachbarn gelernt: Alles, was nicht Rasen war, riss er aus der Erde, zeigte es mir und nannte jede Pflanze nichtsnutziges Unkraut. All diese Pflanzen seien nur gut für den Kompost, lehrte er mich. Als ich das meiner Oma berichtete, nahm sie mir die grünen Pflanzenbüschel aus den Händen und erklärte mir, dass es so etwas wie Unkraut nicht gebe. Im Gegenteil, jede Pflanze bringe uns Menschen Nutzen, von manchen wisse man es nur noch nicht. Und dann erklärte sie mir zu allen Pflanzen, die ich gerade aus ihrem Gartenboden gerissen hatte, wofür man sie verwenden konnte. Es war das letzte Mal in meinem Leben, dass ich „Unkraut“ gejätet habe.

Ich weiß nicht mehr, ob der Kriechende Günsel damals unter den ausgerissenen Pflanzen war. Ich weiß aber, sie wäre begeistert von der Pflanze gewesen, die nicht nur eine Heilpflanze, sondern auch ein Gemüse ist, wie Rudi Beiser im großen Heilpflanzenporträt berichtet (S. 4). Zu den Pflanzen, die sich sicher unter den von mir ausgerissenen befanden, gehörten Löwenzahn, Breitwegerich und Schafgarbe. Dass diese, wie von Sebastian Vigl beschrieben, nicht nur im Garten, sondern auch zusammen mit anderen Pflanzen zwischen den Gehsteigrillen wachsen können und als Tee gegen Harnwegsinfekte helfen (S. 22) – ich vermute, dass meine Oma es wusste. Was sie aber sicherlich nicht kannte, war das Glaskraut, das Martin Zwiesele in dieser Ausgabe vorstellt (S. 46). Ich denke, sie hätte diese vielseitige Pflanze auf jeden Fall geschätzt. Und was sie definitiv nicht ausprobiert hatte: Hanf. Auch wenn er ein Superfood ist und sich lecker zubereiten lässt, wie Henrike März uns zeigt (S. 80). Hanf wäre ihr nicht in den Garten gekommen, das war für sie Rauschgift. Im Gegensatz zu Bärlauch (S. 56), über dessen Anbau Sie in dieser Ausgabe lesen, oder dem Hirtentäschel (S. 30), über dessen Verwendung in der TCM Sie mehr erfahren. Oder dem Springkraut – auch so ein „Unkraut“ – von dessen Vielseitigkeit Ihnen Peter Becker berichtet (S. 66). Der Autor, der sich leidenschaftlich für die kulinarische Nutzung von als Unkraut verschrienen und bekämpften Neophyten einsetzte, ist leider kürzlich verstorben. Dieser Artikel zählt zu seinem Vermächtnis.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen, Zubereiten und Anwenden!

Ihr
Christian Böser
Redakteur Heilpflanzen



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Article published online:
05 April 2023

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