Psychiatr Prax 2023; 50(04): 178-179
DOI: 10.1055/a-1952-1876
Debatte: Pro & Kontra

Sollten wir bei der Mehrzahl der Menschen mit einer psychotischen Erkrankung eine langfristige antipsychotische Rezidivprophylaxe anstreben? – Pro & Kontra

Alkomiet Hasan

Pro

In der gesamten Medizin spielt das Thema Rezidivfreiheit eine ganz entscheidende Rolle. Auch wenn Rezidivfreiheit nicht immer Hand in Hand mit besserem Funktionsniveau und Lebensqualität einhergeht, ist die Freiheit von Erkrankungsrezidiven das wichtigste Behandlungsziel in der langfristigen Behandlung von psychotischen Erkrankungen. Menschen mit einer Schizophrenie erleben in ihrem Erkrankungsverlauf viele Rezidive – in der Literatur finden sich Rezidivraten von bis zu 80%. Die Gründe hierfür sind vielfältig: fehlende soziale Unterstützung, unzureichende ambulante Hilfsnetze, biologische oder genetische Faktoren, kritische Haltung gegenüber der Behandlung im Umfeld, Traumaanamnese, Fluchterfahrung, Non-Adhärenz und der Gebrauch von illegalen Substanzen (v. a. Cannabis) sind einige Gründe. Die beiden letztgenannten sind dabei die empirisch am besten belegten Ursachen. Die wesentlichen Fragen sind daher: Welche evidenzbasierten, empirisch belegten Strategien sind verfügbar, um ein Rezidiv zu vermeiden und warum ist das wichtig? Ich möchte zunächst den zweiten Teil der Frage beantworten – die Folgen eines Rezidivs für die betroffenen Personen sind immens. Rezidive führen häufig zu Hospitalisierungen mit signifikanten psychosozialen Folgen wie soziale Unterstimulation, zu einem Bruch der Alltagsbeziehungen oder zu einem Arbeitsplatzverlust. Rezidive reduzieren das Therapieansprechen für die nächsten Behandlungen, erhöhen die ohnehin sehr hohe Suizidrate und Rezidive sind eine immense Belastung für das soziale Umfeld und das Gesundheits- und Sozialsystem.

Wie können also Rezidive verhindert werden? Es gibt nur wenigen Fragen, die sich empirisch so klar beantworten lassen. Zum einen ist der Verzicht auf den Gebrauch illegaler Substanzen entscheidend. Zum anderen ist eine kontinuierliche antipsychotische Behandlung ein wesentlicher Faktor für die Rezidivfreiheiheit. Im Folgenden werden bewusst nur methodisch exakte Metaanalysen und große Kohorten als Evidenzquelle genannt, da diese Publikationen die höchste methodische Güte und ein deutlich geringeres Verzerrungsrisiko als kleine oder unkontrollierte Studien haben.

Die S3-Leitlinie Schizophrenie empfiehlt die kontinuierliche antipsychotische Behandlung für alle Menschen mit einer Schizophrenie mit dem Ziel der Rezidivprophylaxe [1]. Seit Publikation der Leitlinie wurden hierzu mehrere neue und umfassende Metaanalysen vorgelegt, die diese Empfehlung mit nochmals mehr Evidenz belegen. Eine neue Arbeit analysierte 100 randomisiert-kontrollierte Studien (RCTs) mit 16812 Teilnehmenden und zeigte, dass prinzipiell alle untersuchten Antipsychotika wirksamer als Placebo in der Vermeidung von Rezidiven waren [2]. Eine weitere neue Metaanalyse aus 75 RCTs mit 9145 Teilnehmenden zeigte, dass eine Behandlung mit Antipsychotika im Vergleich zu Placebo in der 1-Jahresbeobachtung zu signifikant weniger Rezidiven führte (24 vs. 61%, RR=0,38) [3]. Diese Arbeit zeigte auch bei den mit einem Antipsychotikum behandelten Patienten eine höhere Lebensqualität und ein besseres Funktionsniveau. Dass die Überlegenheit von Antipsychotika gegenüber Placebo in der Rezidivprophylaxe auch für den Zeitraum von bis zu 6 Jahren Behandlung besteht, zeigte eine Metaanalyse bereits 2012 [4]. Das Argument, dass keine Langzeitstudien für diese Fragestellungen vorliegen, wird häufig vorgebracht, um die Indikation für eine antipsychotische Erhaltungstherapie in Frage zu stellen. Ein RCT kann von der Methodik her nicht über viele Jahre durchgeführt werden und in vielen Fächern der Medizin (z. B. Onkologie) beantworten Kohorten- und Registerstudien Fragen nach der Langzeitperspektive. Auch wenn diese Studien methodisch weniger stringent sind als RCTs, haben sie den Vorteil der höheren Fallzahl und der langfristigen Beobachtungszeiträume. Daten aus dem großen finnischen Register zeigen, dass die Behandlung mit Depot-Antipsychotika oder Clozapin am wirksamsten ist, um Rezidive zu verhindern (N=29823, durchschnittliche Beobachtungszeit 5,7 Jahre [5]). Weiterhin konnte aus dieser Kohorte abgeleitet werden, dass mit dem zweiten Rezidiv die Ansprechrate auf weitere Behandlungen sinkt (N=5367 [6]), und dass im 20-Jahresverlauf die kumulative Mortalitätsrate für keinen Gebrauch von Antipsychotika bei 46,2% und für den Gebrauch von Antipsychotika bei 25,7% liegt (N=62250 [7]). Eine andere Analyse zeigte, dass v. a. eine kontinuierliche antipsychotische Behandlung die Mortalität signifikant reduziert (N=29823 [8]).

Aus empirischer Sicht ist die Sache also klar – eine kontinuierliche antipsychotische Behandlung reduziert das Risiko für ein Rezidiv und ein Absetzen (auch mit einer guten Absetzstrategie, langsam und nicht abrupt) erhöht das Risiko für ein Rezidiv. Diese Sichtweise greift jedoch zu kurz. Zum einen muss klar unterstrichen werden, dass die Kombination aus antipsychotischer Therapie und psychosozialen Therapien wie z. B. Psychoedukation, Familieninterventionen oder kognitiver Verhaltenstherapie entscheidend für eine optimale Rezidivprophylaxe ist – dies wurde kürzlich in einer großen Metaanalyse mit 72 Studien und 10364 Teilnehmenden gezeigt [9].

Zum anderen ist es aus Sicht der evidenzbasierten Medizin erforderlich, die Risiken einer langfristigen kontinuierlichen Behandlung kritisch zu würdigen. Antipsychotika sind hocheffektiv in der Verhinderung von Rezidiven und hocheffektive Medikamente haben Nebenwirkungen. Nebenwirkungen der Antipsychotika sind bekannt, belastend und müssen so gering wie möglich gehalten werden. Deswegen empfiehlt die S3-Leitlinie auch die Behandlung mit der niedrigst möglichen Dosierung) [1]. Was ist eine solche Dosierung? Basierend auf 26 Studien und 4776 Teilnehmenden konnte gezeigt werden, dass der optimale Dosisbereich für die Rezidivprophlayxe mit 2,5 bis 5 mg Risperidon-Äquivalenten definiert ist [10]. Dies entspricht z. B. Amisulprid 200–450 mg/Tag, Haloperidol 2,5–5 mg/Tag oder Olanzapin 5–10 mg/Tag. Im Falle von Nebenwirkungen lohnt sich die Prüfung der Möglichkeit der weiteren Dosisreduktion oder eine Umstellung. Eine druckfrische Metaanalyse zeigte hier basierend auf 98 RCTs und 13988 Teilnehmenden, dass das Umstellen des Antipsychotikums im Vergleich zum Fortsetzen das Rezidivrisiko nicht erhöht, sehr wohl jedoch die Dosisreduktion unter die Standarddosierung [11]. How much proof do we need?



Publication History

Article published online:
09 May 2023

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  • Literatur

  • 1 AWMF (2020) Leitlinie Detailansicht Schizophrenie. https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/038-009.html.Accessed 04.01.2021 2021
  • 2 Schneider-Thoma J, Chalkou K, Dorries C. et al. Comparative efficacy and tolerability of 32 oral and long-acting injectable antipsychotics for the maintenance treatment of adults with schizophrenia: a systematic review and network meta-analysis. Lancet 2022; 399: 824-836
  • 3 Ceraso A, Lin JJ, Schneider-Thoma J. et al. Maintenance treatment with antipsychotic drugs in schizophrenia: A Cochrane Systematic Review and Meta-analysis. Schizophr Bull 2022; 48: 738-740
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  • 7 Taipale H, Tanskanen A, Mehtala J. et al. 20-year follow-up study of physical morbidity and mortality in relationship to antipsychotic treatment in a nationwide cohort of 62,250 patients with schizophrenia (FIN20). World Psychiatry 2020; 19: 61-68
  • 8 Taipale H, Mittendorfer-Rutz E, Alexanderson K. et al. Antipsychotics and mortality in a nationwide cohort of 29,823 patients with schizophrenia. Schizophr Res 2018; 197: 274-280
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  • 10 Leucht S, Bauer S, Siafis S. et al. Examination of dosing of antipsychotic drugs for relapse prevention in patients with stable schizophrenia: A meta-analysis. JAMA Psychiatry 2021; 78: 1238-1248
  • 11 Ostuzzi G, Vita G, Bertolini F. et al. Continuing, reducing, switching, or stopping antipsychotics in individuals with schizophrenia-spectrum disorders who are clinically stable: a systematic review and network meta-analysis. Lancet Psychiatry 22; 9: 614–624