NOTARZT 2022; 38(06): 297
DOI: 10.1055/a-1954-5175
Gast-Editorial

Achte auf Deine Worte, denn sie werden Handlungen

Andreas Bohn
,
André Gnirke

Historisch hohe Einsatzzahlen kennzeichnen die Rettungsdienst-Realität und werden zunehmend presseöffentlich diskutiert. Während das Rufen der 112 in früheren Jahren mit dem Diktum „lieber einmal zu viel anrufen, als einmal zu wenig“ geprägt wurde, zeigt sich derzeit eine zunehmende verbale Eskalation in Bezug auf die Relevanz von Rettungsdiensteinsätzen.

In der Presselandschaft und in den gängigen sozialen Netzwerken wird hierbei von „Bagatelleinsätzen“ oder „unnötigen Rettungseinsätzen“ bisweilen auch von „schwachsinnigen Einsätzen“ oder gar „Schrott“ gesprochen. In den sozialen Netzwerken wird der Ton mitunter auch noch deutlich schärfer.

Schaut man genauer in die Statistiken, so bemerkt man, dass die Anzahl der „Notfalleinsätze ohne Sondersignal“ und „ohne Notarzt“ (in manchen Bundesländern „Notfall klein“ genannt) überproportional ansteigt. Parallel bleibt z. B. die Rate invasiver Maßnahmen von Notfallsanitäter*innen nahezu konstant, obwohl die numerische Anzahl der Einsätze steigt.

Was bedeuten diese Aussagen und Einschätzungen für die Arbeit im Einsatzdienst? Die Haltung, mit der wir in einen Einsatz gehen, wir sprechen gerne auch vom „Mindset“, verändert sich, wenn wir davon ausgehen, dass viele Einsätze, zu denen wir ausrücken, „unnötig“, „unsinnig“ oder gar „schwachsinnig“ sind – Fehleinschätzungen, möglicherweise mit Todesfolge, können die Konsequenz sein.

Zudem: Mit viel Kraft versuchen wir, Menschen für eine Tätigkeit im Rettungsdienst zu gewinnen und vorhandenes Fachpersonal zu halten – und dann erzählen wir ihnen, dass der Großteil ihrer Arbeit „Unsinn“ ist?

Dass die von Stefan Poloczek (Vortrag „Current Challenges in EMS Systems“, EMS-Congress 2018 Copenhagen, DK) einmal als „agitierte Depression des Rettungsdienstes“ beschriebene mentale Abwärtsspirale zur Gefahr für Patienten werden kann, zeigt die vollständige Fassung unseres Aphorismus mit unbekanntem Autor auf:

Achte auf Deine Gedanken, denn sie werden Worte. Achte auf Deine Worte, denn sie werden Handlungen. Achte auf Deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheiten. Achte auf Deine Gewohnheiten, denn sie werden Dein Charakter. Achte auf Deinen Charakter, denn er wird Dein Schicksal.

Unbekannt

Natürlich steigen derzeit die Einsatzzahlen im Rettungsdienst. Natürlich verändert sich das Anruferverhalten und ja, das Spektrum der Einsätze hat sich in den letzten Jahren gewandelt. Wir sind vom Unfallretter zum medizinischen Versorgungsdienstleister geworden. Allerdings: Nach Definition der notfallmedizinischen Fachgesellschaften liegt ein Notfall immer dann vor, wenn „der Patient körperliche oder psychische Veränderungen im Gesundheitszustand aufweist, für die der Patient selbst oder eine Drittperson unverzügliche medizinische und pflegerische Betreuung als notwendig erachtet“ (Stellungnahme der Deutschen interdisziplinären Vereinigung für Notfall- und Akutmedizin [DGINA e.V. zum Referentenentwurf für ein Gesetz zur Reform der Notfallversorgung, 2020). Die Daseinsfürsorge des Staates muss grundsätzlich für alle Notfallpatienten gleichermaßen gelten.

Ein Großteil der Erwartungen an eine „Lebensretter-Tätigkeit“, gar „Heldentum“, sind im Rettungsdienst nicht zu erfüllen. Damit muss der Rettungsdienst umgehen und systemische Lösungen schaffen, die die Möglichkeiten im Einsatzdienst breiter aufstellen und differenziertes Vorgehen erlauben. Immer nur noch mehr Rettungswagen in Dienst zu stellen, kann sicher nicht die einzige Lösung sein.

Bis dahin: Achten Sie auf sich und auf Ihre Kolleginnen und Kollegen!



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Article published online:
30 November 2022

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