Neonatologie Scan 2023; 12(01): 1-2
DOI: 10.1055/a-1977-6462
Editorial

Weniger ist oft mehr!

Axel Hübler
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Roland Hentschel
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Axel Hübler
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Roland Hentschel

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

dass weniger oft mehr ist, erlebt jeder immer mal wieder in so manchem Bereich des eigenen Lebens. Und dass manches Dogma irgendwann fallen muss, ist auch bekannt.

Die Neugeborenensepsis gilt zu Recht als eine sehr ernste Erkrankung; der Verlauf kann im Einzelfall foudroyant sein, langfristige Folgeschäden sind nicht selten. Deshalb lernt jeder Anfänger in der Kinderheilkunde zu diesem Thema als Erstes: so schnell wie möglich diagnostizieren – so früh, wie möglich behandeln – und: im Zweifelsfall immer behandeln, um auf der sicheren Seite zu sein!

Die Symptome der Neugeborenensepsis sind aber oft subtil, Laborwerte und mikrobiologische Befunde manches Mal nicht eindeutig. So wird oftmals behandelt, obwohl möglicherweise gar keine Sepsis vorliegt, manchmal auch unnötig lang.

Die entsprechende AWMF-Leitlinie empfiehlt für die Dauer der Antibiotikatherapie: „Die kalkulierte Antibiotika-Therapie kann bei negativen Blutkulturen und negativen klinischen und laborchemischen Infektionszeichen nach 36–48 Stunden beendet werden.“

Der häufigste Fall in der klinischen Praxis aber ist: ein Erregernachweis gelingt auch 2 bis 3 Tage nach initialem Verdacht nicht, das CRP liegt im oberen Grenzbereich, aber die klinischen Symptome sind nicht eindeutig negativ. Manchmal ist es lediglich eine leichte Trinkschwäche, die auch ohne Sepsis in diesem Alter häufig ist, aber niemand traut sich, die Verantwortung für ein Absetzen der Antibiotika zu übernehmen. Also wird die i.v.-Antibiotika-Behandlung fortgesetzt.

Oder man verfährt sogar streng nach Leitlinie: aber das CRP liegt 24 Stunden nach Behandlungsbeginn knapp oberhalb der zumeist genannten Grenze von 10 mg/l und 2 klinische Sepsismerkmale sind zu beobachten; dabei genügt eine diskrete Temperaturinstabilität bei einem untergewichtigen Neugeborenen, und passend dazu wird die Rekapillarisierungszeit mit 3 sec. bestimmt. Oder: dieselben diskreten Symptome, kein erhöhtes CRP, aber der I/T-Quotient liegt knapp über 0,2 und Koagulase-negative Staphylokokken sind in der Blutkultur gewachsen, was durchaus aber auch eine Kontamination sein kann.

Die Folge auch hier: die Antibiotikabehandlung wird fortgesetzt, meist für 5 bis 10 Tage.

Im Interventionsarm der RAIN-Studie, die es vor kurzem immerhin in die Zeitschrift Lancet geschafft hat, und deren Ergebnisse in dieser Ausgabe von Neonatologie Scan zusammengefasst werden, haben Keij et al. in einer breiten Kooperation aller niederländischen neonatologischen Abteilungen ein klinisches Experiment gewagt und ein Dogma gefällt, das besagt, die Antibiotikabehandlung bei der Neugeborenensepsis muss intravenös erfolgen, selbst i.m. gilt nicht als standardgerecht. Bei späten Frühgeborenen ab 35 SSW und reifen Neugeborenen haben sie in der Interventionsgruppe nach 48 bis 72 Stunden die standardmäßige i.v.-Therapie auf eine orale Behandlung mit Amoxicillin/Clavulansäure umgestellt, während in der Standardgruppe die i.v.-Therapie weiterlief. Das wesentliche Ergebnis: Die gewagte Intervention durch einen Wechsel auf orale Antibiotika war der Standardgruppe in keinem der Studienendpunkte unterlegen, insbesondere war auch die Reinfektionsrate mit < 1 % gleich. Und die Hospitalisierungsdauer reduzierte sich sogar von 6,8 auf 3,4 Tage.

Allein in Baden-Württemberg werden jährlich etwa 600 Neugeborene mit einer Sepsis stationär behandelt. Spart man im Durchschnitt bei dem oben skizzierten Vorgehen des Wechsels auf eine orale Antibiotikagabe 3 Behandlungstage pro Patient ein, so ergeben sich bis zu 1800 Behandlungstage. Ein Segen für die Eltern-Kind-Beziehung in dieser sensiblen Phase unmittelbar nach Geburt. Und zumindest eine kleine Entlastung für das Personal. Und diejenigen Patienten, die wegen einer zusätzlichen Pathologie doch noch nicht vorzeitig nach Hause können, profitieren vielleicht von einer reduzierten Anzahl an sonst notwendigen Venenpunktionsversuchen.

Auch laut einer weiteren Antibiotikastudie, zusammengefasst in diesem Heft unter der Überschrift „Antibiotika auf der Intensivstation: Postoperative Prophylaxe minimieren“, schneiden unsere oftmals an Dogmen orientierten Verordnungsgewohnheiten schlecht ab: fast 90 % der postoperativen Antibiotikaverordnungen waren in der referierten kanadischen Studie nach Meinung von Wissenschaftlern nicht indiziert.

Dennoch: die Erkenntnis, dass weniger oft mehr ist, will erst einmal hart erarbeitet sein! Auch im eigenen Team!

Ihre Herausgeber
Prof. Dr. med. Roland Hentschel
Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät
der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

PD Dr. med. Axel Hübler
Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin,
Klinikum Chemnitz gGmbH



Publication History

Article published online:
15 February 2023

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