Psychiatr Prax 2023; 50(02): 110-112
DOI: 10.1055/a-2002-7222
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Psychodynamische Durchdringung eines zentralen gesellschaftlichen Problems

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Die Suchterkrankung hat nach wie vor einen eigenartigen Platz im Gefüge der psychiatrischen Versorgung. Sie wird zwar allenthalben als Krankheit geführt und von der Prävention über die Behandlung bis hin zur Rehabilitation über die Kranken- und Rentenversicherung gegenüber anderen schweren psychischen Erkrankungen bevorzugt behandelt. Die kommunale Suchthilfeplanung ist fest etabliert, während die kommunale Psychiatrieplanung immer noch um ihre Daseinsberechtigung kämpfen muss. Im Maßregelvollzug nehmen suchtkranke Straftäter nach wie vor eine Sonderstellung ein, die Unterbringung im Maßregelvoll kann in Deutschland erfolgen, wenn die Straftat im Zusammenhang mit dem „Hang zum Suchtmittelmissbrauch“ erfolgt ist. Die Unterbringung findet dann in einer „Entziehungsanstalt“ statt, die von den Betroffenen gegenüber dem Strafvollzug bevorzugt wird, weil in ihnen die Halbstrafenregelung gilt. Wenn suchterkrankte Personen nicht in der Lage sind, abstinent zu leben, wird ihnen das jedoch als Therapieverweigerung ausgelegt und sie haben beträchtliche Schwierigkeiten, im gemeindepsychiatrischen System Hilfen zu erhalten.

Diese ambivalente Haltung der Gesellschaft gegenüber suchterkrankten Menschen mag daran liegen, dass die Gesellschaft ein ambivalentes Verhältnis zur Sucht hat. Die Zahl der Betroffenen ist hoch, die Zahl der gefährdeten wesentlich höher. Seit Jahren wird von immer mehr jungen Personen, immer mehr Mädchen etc. gesprochen. Mediziner:innen geben immer geringere Mengen Alkohols an, die für die Gesundheit gefährlich werden können. Gleichzeitig wurde der Alkoholkonsum unter freiem Himmel während der Einschränkungen durch die Corona-Pandemie als Symbol der Freiheit stilisiert und das Alkoholverbot in den Fußballstadien wurde als ein Sakrileg der Weltmeisterschaft in Katar betrachtet. Im Bereich der Drogen ist die Ambivalenz nicht geringer. Während Haschisch geringere Gesundheitsschäden verursacht als Alkohol und im Zuge der Studentenbewegung als bewusstseinserweiterndes Mittel betrachtet wurde, gilt es einem Teil der Psychiater:innen als Einstieg in eine schizophrene Psychose.

Die Beschäftigung mit dem Sinn der Sucht ist daher zwingend erforderlich. Der Autor, Jahrgang 1951, ist Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker und Supervisor in eigener Praxis und war zwölf Jahre lang wissenschaftlicher Leiter eines Modellprojekts des Berliner Senats zur Suchtprävention an Schulen. Seine langjährige Erfahrung mit Suchtmittelabhängigen speist sich vor allem aus der ambulanten psychodynamischen Einzeltherapie und der Supervision psychiatrischer Klinikabteilungen und Teams aus Einrichtungen der Suchthilfe als Supervisor. Als Mitglied des Leitungsgremiums Tiefenpsychologie an der Berliner Akademie für Psychotherapie ist es nachvollziehbar, dass er den psychodynamischen Ansatz wählt, die Suchterkrankung zu verstehen. Sein neues psychoanalytisches Modell Sucht wird in neun Kapiteln als „Missglückte Bindung“ entfaltet. In den drei Schlusskapiteln erweitert er das Modell auf die gesellschaftlichen Verhältnisse mit der Überschrift „Sozio-Psychoanalyse der Abhängigkeitserkrankungen“. Das Buch ist die komplett überarbeitete Neuausgabe des 2001 erschienen Buches „Rausch und Unglück“ und hinterlässt den Eindruck eines Lebenswerkes.

Angesichts der umstrittenen Frage des Übergangs vom Suchtmittelgebrauch zur Suchtmittelabhängigkeit wählt Voigtel den Einstieg über die Geschichte des Konstrukts Sucht sowie gängigen theoretischen Erklärungen. In diesem ersten Abschnitt mit der Überschrift „Maßlosigkeit als Krankheit“ arbeitet er in acht Kapiteln von psychiatrischen Auffassungen über Kulturkritik bis hin zu „Neurochemisches Modell und Vererbung“ unterschiedliche Erklärungen heraus. In dem historischen Kapitel spannt er den Bogen von dem Gelage der Germanen, das durch starke Rituale im Zaum gehalten wurde, über die eigene Verantwortlichkeit des Menschen und den Mangel an Nüchternheit als Sünde bis hin zum Flucht- und Befreiungscharakter des impulsiven rauschhaften Trinkens als Widerstreben gegen eine sozial induzierte Selbstdisziplinierung.

Die Sucht sei weder eine zufällige psychische Fehlschaltung noch eine rein physiologische Krankheit des Gehirns. Ihr Sinn liege vielmehr darin, den betroffenen Menschen durch ein System von unbewussten psychischen Selbstschutzoperationen vor unerträglichen Emotionen zu schützen. Das Programm des Buches: „Es wird dargestellt, um welche Emotionen es sich dabei handelt, warum sie so unerträglich sind, wie sie entstanden sind und wie das süchtige Verhalten davor schützt. (S. 12). Insbesondere auf Grundlage der psychoanalytischen Säuglings- und Beziehungsforschung arbeitet Voigtel die der Sucht grundlegende Beziehungsstörung heraus und beschreibt die daraus resultierenden Abwehroperationen. Angereichert durch Fallbeispiele entwirft er eine Typologie von drei Varianten schwerer Sucht: 1.) Adaptive Sucht, 2.) Fusionäre Sucht, 3.) Resignative Sucht. Das Suchtmittel ersetze ein Bezugsobjekt, das ungenügend mit dem eigenständigen Persönlichkeitsanteil des Kindes in emotionalen Kontakt getreten sei. Zum Zeitpunkt der Ablösung würden „vernichtende Einsamkeit“ und „Selbstablehnung“ (S. 304) drohen, die einen Objektersatz in Form des Suchtverhaltens erforderten.

Neben Konsequenzen für die Therapie, die aus dem strukturellen Kern der Sucht als psychische Krankheit folgen, wird die Sucht auch als Symptom und damit Teil der Abwehrformation anderer psychischer Krankheiten herausgearbeitet. Voigtel macht sich auf den Weg, die Essenz psychischer Krankheit zu entdecken, die er in dem Gefühlsklima zwischen den frühen Bezugspersonen und dem Kleinkind“ (S. 367) festmacht. Die Sozio-Psychoanalyse führt ihn denn zu der Erziehungshaltung, bei der die „liebevolle Anerkennung“ (S. 369) durch das Primärobjekt, die Mutter, die zentrale Rolle spielen. Die Erziehungshaltung der bürgerlichen Gesellschaft verfolgt er von der moralischen Erziehung als Vermittlung christlicher Werte, über die im Nationalsozialismus zum Höhepunkt gelangte autoritäre Gleichrichtung bis hin zur subjektorientierten anerkennenden Erziehung am Ende des 20. Jahrhunderts. In der theoretischen Schlussbetrachtung markiert der Autor seinen eigenen Weg von der innerpsychischen Dynamik der klassischen Psychoanalyse zu interaktiven Ansätzen der Objektbeziehungstheorie, der Bindungstheorie, der Intersubjektivitätstheorie und der Mentalisierungstheorie. Er habe herausarbeiten wollen, „dass das Kind mit seinen spontanen Abwehrreaktionen auf Verhaltensweisen der mütterlichen Bezugsperson reagiert, die es als Verlassen-Werden und tödliche Bedrohung empfindet“ (S. 424).

Ob Voigtel damit den Sinn der Sucht und seine Bedeutung für psychische Erkrankungen umfassend erfasst hat, ist zu bezweifeln. Obwohl er seine Theorie auf Interaktionen öffnet, bleibt sie doch auf die Mutter-Kind-Dyade begrenzt und lässt die Interaktionen der ödipalen Triade außen vor. In der ödipalen Triade kommen zwei Dyaden in der Interaktionsdynamik hinzu, nämlich die Vater-Kind-Dyade und die Dyade der Gattenbeziehung, die auch bei gleichgeschlechtlichen Partnerschaften relevant ist. In der Vater-Kind-Dyade wird die Repräsentation der gesellschaftlichen Anforderungen vermittelt, aus der Dyade der Gattenbeziehung ist das Kind ausgeschlossen. Voigtel beschreibt die Beziehungsdynamik daher aus einer einseitigen Perspektive und wendet die oben beschriebenen Theorien subsumtionslogisch auf seine Erfahrungen mit suchtkranken Personen an. Als zentrales Vermittlungsglied verwendet er den Begriff der Erziehung und nicht der Sozialisation. Wie die „gesellschaftlich-historischen Strukturen“ sich in den „persönlichen, subjektiven Emotionen“(S. 425) entwickeln, darüber kann er nur spekulieren.

Darin zeigt sich die Begrenztheit der psychodynamischen Ansätze bei der theoretischen Weiterentwicklung der Theorie – der Prozess der Theoriebildung erfolgt nicht fallrekonstruktiv und strukturbildend, sondern falldemonstrativ für die vorhandenen Theorien. Gleichwohl ist das Buch vor allem für Praktiker aufgrund seiner gründlichen Durchdringung der Materie und dem breiten Ansatz eine gewinnbringende Lektüre.

Michael Konrad, Ravensburg

E-Mail: konrad-counseling@outlook.de



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Article published online:
14 March 2023

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