Psychiatr Prax 2023; 50(08): 404-405
DOI: 10.1055/a-2070-1425
Debatte

Die psychiatrische Kompetenz im hausärztlichen Bereich muss gestärkt werden – Pro

Victoria von Schrottenberg*
1   Institut für Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Klinikum rechts der Isar, TU München
,
Jochen Vukas*
2   Institut für Allgemeinmedizin, Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität, München
,
Peter Henningsen
,
Caroline Jung-Sievers
,
Antonius Schneider
,
Jochen Gensichen
,
für das POKAL Graduiertenkolleg › Author Affiliations

Pro

Der demographische Wandel führt innerhalb der Ärzteschaft und explizit in den Fachbereichen Psychiatrie und Psychotherapie zwangsläufig zu einer Nachwuchslücke, was die Versorgungssituation für Menschen mit psychischen und psychosomatischen Störungen in Zukunft verschärfen wird [1]. Welche Möglichkeiten gibt es also um diese Fachspezialist*innen zu entlasten? Im Sinne einer ergänzenden Versorgung können Hausärzt*innen helfen die Nachwuchslücke zu minimieren.

Die hausärztliche Versorgung in Deutschland und weltweit umfasst in der Regel eine kontinuierliche und koordinierte Erstversorgung für Einzelpersonen und Bevölkerungsgruppen, die nicht nach Alter, Geschlecht, Krankheit oder Organsystem unterschieden werden. Das bedeutet, dass selbstverständlich auch Menschen mit psychischen Beschwerden in der Primärversorgung behandelt werden. Die Mehrheit aller Patient*innen mit psychischen Problemen nimmt zudem gar keine psychologischen Dienste in Anspruch und wird ausschließlich in der Primärversorgung behandelt [2]. Zudem suchen Patient*innen mit Depressionen ihre*n Arzt/ Ärztin überwiegend aufgrund von Körperbeschwerden auf. Hausärzt*innen übernehmen somit die zunächst notwendige Aufgabe psychische Störungen, funktionelle somatische Syndrome und rein strukturelle Pathologien korrekt abzugrenzen.

Durch die auf Dauer ausgelegte Beziehung zwischen Hausärzt*innen und Patient*innen werden Patient*innen unter der Berücksichtigung von wichtigen biopsychosozialen Aspekten versorgt. Das bedeutet, dass Beziehungen zu Familie, Nachbarschaft und sozialem Umfeld in der Diagnostik und Behandlung leichter berücksichtigt werden können [3], wodurch sich Hausärzt*innen bei der therapeutischen Entscheidungsfindung an zusätzlichen Informationen orientieren, die Fachärzt*innen nur eingeschränkt zur Verfügung stehen.

Ein weiterer Vorteil, der sich durch die (Mit-) Behandlung des Hausarztes/ der Hausärztin ergibt, sind die Regelmäßigkeit und Gestaltungsmöglichkeiten der Kontakte. In wiederkehrenden Kurzterminen kann der Zustand der Patient*innen erfasst sowie die Selbstversorgungskompetenz adäquat erhöht werden [4]. Hausärzt*innen haben in der Regel ein gutes Wissen um Ressourcen und Strukturen des Gemeinwesens und den Kontext der Patient*innen, so dass sie hier koordinativ tätig werden können.

Es ist somit unbestreitbar, dass die Rolle von Hausärzt*innen in der Behandlung psychischer Störungen und in der Zusammenarbeit mit Fachärzt*innen zentral ist. Die stark zunehmende Fragmentierung der Patient*innenversorgung sowie die Differenzierung innerhalb der medizinischen Fachbereiche selbst birgt dabei außerdem die Gefahr von Informationsverlusten. Die regelmäßige Kommunikation zwischen behandelnden Ärzt*innen und ärztlichen/ psychologischen Psychotherapeut*innen ist noch keine gängige Praxis. Häufig wenden Mediziner*innen ein, dass sie nach einer Überweisung von den Weiter-Behandlern (ärztlichen/ psychologischen Psychotherapeut*innen, Psychiater*innen) ,,nichts mehr hören‘‘ [5]. Daraus wird deutlich, wie wichtig es ist Fachspezialist*innen für die Rolle der Hausärzt*innen und eine patientenorientierte Zusammenarbeit zu sensibilisieren. Gleichzeitig muss im Sinne einer integrativen Versorgung bereits in der Ausbildung die Zusammenarbeit und Kommunikation unter den verschiedenen Behandler*innen unterrichtet werden [3].

Da die Entwicklung der Altersstruktur zweifelsohne auch eine Herausforderung in der hausärztlichen Versorgung darstellt und Patient*innen mit Depressionen auch in der Primärversorgung nicht immer optimal behandelt werden [6], sollten zusätzlich die Kompetenzen der Hausärzt*innen im Bereich der psychischen und psychosomatischen Versorgung innerhalb der Grundversorgung ausgebaut werden. Leitlinien zur Diagnostik und Behandlung psychischer/ psychosomatischer Störungen in der Primärversorgung müssen besser implementiert oder implementierbar gemacht werden.

Das POKAL Graduierten Kolleg (PrädiktOren und Klinische Ergebnisse bei depressiven ErkrAnkungen in der hausärztLichen Versorgung, DFG-GRK 2621) der LMU und TU München bietet eine Ausbildungsmöglichkeit, bei der die Zusammenarbeit, der Austausch, die gemeinsame Sprache, die Interdisziplinarität sowie die integrative Arbeit gefördert werden [7]. Ziel ist eine deutschlandweite Verbesserung der Diagnostik, Behandlung und Implementierung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen in der Primärversorgung und folglich eine Entlastung der Fachspezialist*innen.

* geteilte Autorenschaft




Publication History

Article published online:
16 November 2023

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  • Literatur

  • 1 Cohrs S, Pehlke JR, Jordan W. et al. Dramatic changes in the age structure for medical specialists in the field of mental health. Nervenarzt 2022; 93: 695-705 DOI: 10.1007/s00115- 022-01268-4.
  • 2 Freytag A, Kösters M, Schmauß M. et al. Daten-Monitoring Depression zur psycho-und pharmakotherapeutischen Inanspruchnahme von Patienten mit Depression. Versorgungs-Report 2015; 2016: 329-361
  • 3 Kruse J, Jäger B, Jakobi H. Psychische Erkrankungen und ärztlich-psychotherapeutische Versorgung: Herausforderung für das System. Deutsches Ärzteblatt 2021; 118: 932-934
  • 4 Petzold TD. Salutogene Kommunikation zur Anregung der Selbstheilungsfähigkeit bei langwieriger Erkrankung. Chronisch krank und doch gesund 2013; 263-278
  • 5 Gunn WB, Blount A. Primary care mental health: A new frontier for psychology. Wiley Online Library 2009; 23: 235-252
  • 6 Trautmann S, Beesdo-Baum K, Knappe S. et al. Behandlung depressiver Störungen in der primärärztlichen Versorgung. Deutsches Ärzteblatt International 2017; 114: 721-728
  • 7 Gensichen J, Lukaschek K, Jung-Sievers C. et al. Predictors and outcomes in primary depression care (POKAL) – A research training group develops an innovative approach to collaborative care. BMC Primary care 2022; 23: 1-10