Psychiatr Prax 2023; 50(08): 446-447
DOI: 10.1055/a-2160-9773
Szene

Neues aus Bürokratistan

Bürokratistan ist ein kleines, hierzulande weitgehend unbekanntes zentralasiatisches Land. Ich kenne einige sehr engagierte psychiatrische Kolleginnen und Kollegen dort, so dass ich aufgrund ausgesprochen guter anekdotischer Evidenz über die Verhältnisse dort recht gut Bescheid weiß. Sie geben uns ein paar anschauliche Beispiele, wie man die psychiatrische Versorgung nicht weiterentwickeln sollte, weshalb ein kurzer Bericht in dieser Zeitschrift möglicherweise hilfreich sein könnte. Die Kolleginnen und Kollegen dort leiden derzeit unter denselben Problemen, die man überall auf der Welt kennt: Fachkräftemangel vorwiegend im ärztlichen und pflegerischen Bereich und allgemeine Ressourcenknappheit. Damit kann man so gut oder schlecht zurechtkommen wie überall. Dennoch haben sie in diesem Jahrtausend dort sehr Beachtliches geleistet. Trotz zuweilen schwieriger gesetzlicher Rahmenbedingungen haben sie eine im Großen und Ganzen sehr gut funktionierende psychiatrische Versorgung stationär, teilstationär und ambulant realisiert, haben eine sehr gute Behandlungskultur etabliert und gehen sehr sorgfältig mit allen ethischen Herausforderungen um. Weitgehend aus eigenen Mitteln der dortigen Fachgesellschaft ohne staatliche Unterstützung haben sie sehr formalisierte evidenz-basierte Behandlungsleitlinien auf hohem Niveau entwickelt, die sich zunehmend auch in der alltäglichen Praxis widerspiegeln. Auch die Weiterbildung sowohl in der Psychiatrie als auch der Psychotherapie ist auf einem guten Niveau, Angehörige und Betroffene sind in Teils vorbildlicher Weise in die Behandlungsprozesse involviert.

Vor einigen Jahren gab es dort gesetzliche Initiativen, die Finanzierung der Krankenhäuser auf eine neue Grundlage zu stellen. Die zahlreichen psychiatrischen, kinder- und jugendpsychiatrischen und psychotherapeutischen Fachgesellschaften begrüßten das Vorhaben und beteiligten sich mit einer Fülle von teils sehr ausgereiften konstruktiven Vorschlägen, die sie den politischen Entscheidungsträgern auch umfangreich präsentierten durften. Die Entscheidungsträger der im Grunde recht gut funktionierenden Demokratie luden maßgebliche Fachvertreter und Fachvertreterinnen sogar zu einer sehr großen Zahl von Anhörungen bezüglich des Verbesserungspotentials nach Berlinistan, in die Hauptstadt des Landes, ein. Das Ergebnis der mit Spannung erwarteten Gesetzgebung fiel dann allerdings ernüchternd aus. Der einzige vorerst realisierte Reformschritt bestand, abgesehen von einer etwas speziellen, sehr bürokratischen (nomen est omen) Variante des international bereits gut bekannten Home-Treatments, in einer Richtlinie für die Mindestausstattung psychiatrisch-psychotherapeutischer Kliniken. Was erst einmal gut klang im Sinne der Qualität der Patientenversorgung und im Grunde den langjährigen Forderungen der Träger der psychiatrischen Versorgung entsprach, erwies sich freilich schnell als Belastung, weil die bürokratistanischen Krankenkassen schnell dazu übergingen, die Mindestpersonalbesetzung zugleich als die Maximalgrenzen der Finanzierung zu definieren. Welche Auswirkungen die genannte Richtlinie zur Personalausstattung der Kliniken haben sollte, blieb lange kontrovers. Zunehmend setzte sich aber die Auffassung der Krankenkassen durch, dass Strafzahlungen der Kliniken fällig sein müssten, wenn die Personalbesetzung nicht eingehalten werden konnte. Dies stand in guter Übereinstimmung mit der Auffassung des Gesundheitsministeriums in Bürokratistan, dass die Anzahl der Krankenhäuser generell und daher wohl auch in der Psychiatrie zu hoch sei und marktwirtschaftliche Mechanismen (Bürokratistan identifiziert sich hochgradig mit den Prinzipien der Marktwirtschaft in allen Lebensbereichen) erforderlich seien, um deren Zahl zu bereinigen. Wie sollte nun die Einhaltung der Mindestpersonalbesetzung geprüft werden? Über alle Berufsgruppen hinweg im Jahresdurchschnitt, oder gar für jede einzelne Berufsgruppe, vielleicht sogar vierteljährlich? Meine Informanten haben keine eindeutige Meinung, ob es sich bei der jetzt etablierten Lösung um eine gezielte Strategie des Gesundheitsministeriums zu dem oben genannten Zweck handelt oder einfach um eine Pfadabhängigkeit, d. h. das unbeirrbare Weiterverfolgen eines einmal eingeschlagenen Wegs. Dieser bedeutet, unter dem Gesichtspunkt der „Qualität“ alles im Gesundheitswesen zu zählen, zu messen und vor allem zu kontrollieren, was in irgendeiner Form kontrolliert werden kann. Dazu wurde eine eigene Institution geschaffen, Medicy Servicy, eine per Gesetz unabhängige Kontrollinstitution, bestehend keineswegs aus sachunkundigen Verwaltungsleuten, sondern aus Angehörigen eben jener Berufsgruppen, die auch in den Krankenhäusern tätig sind (und dort fehlen). Das mag vernünftig gedacht gewesen sein; die Fachangestellten des Medicy Servicy betreiben ihre Aufgaben freilich den glaubhaften Schilderungen zufolge mit der zuweilen als landestypisch erachteten besonderen Beflissenheit und Detailversessenheit. Obwohl die zumeist öffentlich betriebenen psychiatrischen Kliniken bisher nicht durch Abrechnungsbetrug aufgefallen waren, setzen die Prüfer des Medicy Servicy nun zu einer tiefen Prüfung aller Tätigkeiten in den Krankenhäusern an, wozu sie gesetzlich auch ausdrücklich legitimiert sind. Also müssen alle Arbeitsverträge und beruflichen Qualifikationen der Beschäftigten sorgfältigst geprüft werden - schließlich muss man doch sicherstellen, dass die Kliniken nicht in Wirklichkeit Pizzabäcker anstelle von Psychologen und Bäckereifachverkäuferinnen als Chefärztinnen arbeiten lassen. Im nächsten Schritt ist die Einsicht in die Dienstpläne aller Berufsgruppen erforderlich. War am 13. April die angesichts der Belegung errechnete Mindestpersonalbesetzung in allen Berufsgruppen vorhanden? Und hatten die angegebenen Berufsgruppen tatsächlich alle die erforderliche Qualifikation? War die Klinik folglich berechtigt, alle angegebenen Behandlungsformen abzurechnen? Trotz eines enormen Zeitaufwandes nicht nur der Kollegen von Medicy Servicy, sondern vor allem der beteiligten Krankenhäuser gelang es den Prüfern bedauerlicherweise zunächst nicht, Auffälligkeiten bei den Kliniken festzustellen. Auch an den Tagen, an denen leitende Ärztinnen und Ärzte in Urlaub waren, waren die benannten Vertreterinnen und Vertreter tatsächlich auf den eingesehenen Dienstplänen als anwesend zu verifizieren. Doch halt, endlich ein Triumph: Der bestellte Vertreter einer Chefärztin, Facharzt für Psychiatrie seit 1994, hatte seine Facharztbezeichnung vor der Änderung der Weiterbildungsordnung in Bürokratistan erworben, nach der die Facharztbezeichnung jetzt (wie bei uns auch) „Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie“ lautet. Also ein Vertreter im Dienst, der nicht die erforderliche Facharztqualifikation hat (dass es sich bei der betreffenden Station um eine gerontopsychiatrische Station für Delir und Demenz handelte, durfte unberücksichtigt bleiben) - also doch ein klarer Fall von Abrechnungsbetrug, für den sich hoffentlich weitreichende Konsequenzen ableiten lassen! Bürokratistan hat übrigens schon lange, getragen von einem sehr breiten Konsens in der Bevölkerung, das Thema „Bürokratieabbau“ hoch auf der politischen Agenda stehen. Wie gut, dass derlei bei uns unvorstellbar wäre!

Tilman Steinert, Weißenau

Tilman.steinert@zfp-zentrum.de



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Article published online:
16 November 2023

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