Subscribe to RSS
DOI: 10.1055/a-2167-8982
„Die Ergotherapeutin hat mich da abgeholt, wo ich gerade war“
Ergotherapie bei akuter Depression Unternehmerin Frau L. ist 67 Jahre alt und erkrankte an Burnout und Depressionen. Nach wenig nachhaltigen Klinikaufenthalten erhielt sie durch fehlende Psychotherapieplätze und glückliche Umstände Ergotherapie. Im Interview erzählt sie, wie sie dadurch wieder handlungsfähig wurde.
Frau L., Sie haben sich bei uns gemeldet, weil Sie gute Erfahrungen mit Ergotherapie gemacht haben. Möchten Sie uns erzählen, welche Umstände Sie zur Ergotherapie geführt haben?
Vor meiner Rente leitete ich eine Produktionsfirma. Im Rahmen von Corona brachen allerdings die Aufträge weg. Es gab außerdem bereits im Vorfeld einige Veränderungen, und beides zusammen führte letztendlich dazu, dass ich Insolvenz anmelden musste. Als sich dies abzeichnete, erlitt ich ein Burnout. Daraufhin kam ich in eine Akutklinik und wurde dort sieben Wochen lang behandelt. Bei meiner Entlassung erhielt ich eine Liste von etwa 50 verschiedenen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, an die ich mich für eine Weiterbehandlung wenden sollte. In der Klinik wurden ausschließlich akute Fälle behandelt, sodass ich dann aus der Klinik wieder zurück in die Situation kam, die mich ursprünglich krank gemacht hatte. Ich versuchte, die Psychotherapeut*innen von der Liste auf verschiedenen Wegen zu erreichen, bekam aber entweder gar keine Rückmeldung oder eine Absage aufgrund zu langer Wartelisten. Zum Teil waren die Entfernungen zu den Praxen sehr weit, und ich hätte ein Auto benötigt, um sie zu erreichen. Im Rahmen der Insolvenz habe ich jedoch alles verloren – meine Firma, mein Haus, meine Rücklagen. Durch die Zeit meiner Selbstständigkeit habe ich nicht viel in die Rentenkasse eingezahlt, wie das normale Arbeitnehmer*innen machen, weil ich Geld immer wieder für die Firma ausgeben musste. Dabei verlor ich mich und meine persönliche Situation aus den Augen.
Das heißt, Sie befanden sich in einer Ausnahmesituation auf sämtlichen Ebenen. Wie hat sich die Depression dann bemerkbar gemacht?
Wenn ich mich in einer depressiven Phase befinde, fehlt mir sämtliche Energie. Das erlebe ich auch bei anderen Betroffenen, die ich aus der Klinik oder aus der Selbsthilfegruppe kenne. Man könnte sogar sagen, dass eine Verwahrlosung stattfindet. In der Klinik bekommt man vermittelt, dass man sich eine Tagesstruktur schaffen und sich Ziele setzen muss. Etwas zu „müssen“, funktioniert in dieser Situation aber nicht. Wir sind in der Depression wie kleine hilflose Menschen, die nicht mehr wissen, wohin das Leben gehen soll. Man ist nicht mehr in der Lage, den Alltag zu organisieren und für Familie, Kinder und Haushalt zu sorgen. Alles, was ich normalerweise mit links gemacht habe, erschien in dieser Phase unmöglich.
Wie sind Sie dann erstmalig mit Ergotherapie in Berührung gekommen?
„Die Alltagsnähe ist das, was die Ergotherapie effektiv macht.“
Die Überweisung zur Ergotherapie kam zustande, weil ich keinen Platz für eine Psychotherapie fand. Ich fragte bei der Krankenkasse nach, welche Hilfen ich stattdessen bekommen könnte. Diese beauftragte die Integrierten Versorgungsprogramme (IVP) in Hamburg. Dieses Institut bietet Hilfe für Menschen mit psychischen und chronischen Erkrankungen an und unterstützt dabei, dass man die mögliche Versorgung erhält. Die riefen mich an und wir überlegten gemeinsam, welche Möglichkeiten ich habe. Da wurde mir psychisch-funktionelle Ergotherapie vorgeschlagen. Diese war aber nirgendwo bekannt. Auch mein Arzt war nicht überzeugt davon, dass das etwas sein kann, was mir hilft. Er war erstaunt, dass es überhaupt Ergotherapie mit passenden Inhalten für meine Situation gibt.
Der Hausbesuch war wichtig, damit die Therapeutin einen Eindruck von meiner Situation bekam.
Nachdem feststand, dass ich Ergotherapie bekommen kann, startete ich mit der Suche nach einem Ergotherapeuten oder einer Ergotherapeutin. Ich telefonierte mit verschiedenen Praxen, die mir Gedächtnistraining oder Sprachtraining anboten. Da sträuben sich mir heute noch die Haare. Für mich passende Angebote aus dem Bereich psychisch-funktionelle Ergotherapie hatten die meisten Praxen gar nicht in ihrem Portfolio.
Irgendwann rief mich eine Praxis zurück und erzählte mir, dass eine junge Ergotherapeutin eine neue Praxis eröffnet. Sie half mir dabei, Namen und Telefonnummer der neuen Praxis zu recherchieren, und dann rief ich auch dort an. Nach etlichen Versuchen, erreichte ich endlich jemanden. Die Ergotherapeutin erzählte mir, dass sie erst in dieser Woche die Praxis aufgemacht hatte und schon nahezu alle Plätze besetzt waren. Ich hatte Glück und bekam den letzten Platz.
Wie ging es weiter? Welche Erfahrungen haben Sie mit dieser Ergotherapeutin gemacht?
Ergotherapie war genau das Richtige für mich. Was ich zu diesem Zeitpunkt brauchte, hätte keine Psychotherapeutin und kein Psychotherapeut leisten können. Die Ergotherapeutin konnte mich da abholen, wo ich gerade war. Mir half besonders, dass sie zu mir nach Hause kam. Dadurch, dass ich auf dem Land wohnte und kein Auto hatte, wäre ich den ganzen Tag mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs gewesen, um zur Ergotherapie zu kommen. Allerdings wäre ich dann nicht mehr zurückgekommen. Gegenüber dem Arzt ließ sich der Hausbesuch aber trotzdem nur schwer durchsetzen. Er war aber wichtig, damit die Ergotherapeutin einen Eindruck von meiner Situation bekam. Hätte sie mich nicht in meinem Umfeld erleben können, wären wichtige Aspekte verloren gegangen.
Als ich mit der Ergotherapie begann, fehlte mir jegliche Kraft. Die Therapeutin unterstützte mich zu Beginn der Therapie erst mal dabei, die Selbstvorwürfe sein zu lassen. Mich beschäftigte sehr, dass ich nicht so leistungsfähig war, Aufgaben nicht geschafft habe und keine Kraft hatte, Dinge zu beginnen.
Die Ergotherapeutin schaute mit mir gemeinsam, was für mich machbar ist, und darauf bauten wir dann in kleinen Schritten auf. Im Prinzip kann man sich das vorstellen wie bei einem kleinen Kind, das gerade laufen lernt: Am Anfang nahm mich die Ergotherapeutin an die Hand, und wir haben gemeinsam geschaut, wie es geht. Nach und nach konnte ich ihre Hand loslassen und immer mehr Schritte selbst gehen. Das war für mich ein besonders heilsamer Prozess, der mir wieder mehr Lebensenergie gab.
Können Sie sich erinnern, welche Schritte das waren? Womit haben Sie begonnen, wieder ins Handeln zu kommen?
Ich hatte in der Phase, in der die Ergotherapeutin zu mir kam, starke Konzentrationsprobleme. Ich konnte keinen Satz lesen und am Ende noch wissen, was am Anfang stand. Ich konnte auch keine Telefonate oder Gespräche führen, in denen es einen wechselseitigen Austausch gab. Wir überlegten zunächst, was wichtig ist, damit ich mich wohlfühle. Dazu gehörte, dass ich morgens aufstehe, dusche und mir Frühstück mache. Die Ergotherapeutin gab mir aber keine Sachen vor, sondern unterstützte mich beim Sammeln von Ideen. Daraus formulierten wir Tagesziele. Es standen verschiedene Fragen im Mittelpunkt: Was würde mir heute guttun, was würde mich heute glücklich machen? Was ist eine Sache, die ich heute schaffen kann? Das waren ganz kleine Schritte.
Was gelang Ihnen durch die Ergotherapie noch?
Da gab es viele Dinge. Durch die Insolvenz und den plötzlichen Tod meines Mannes war ich quasi obdachlos. Das Haus, in dem ich wohnte, ist mit in die Insolvenz gegangen. Ich musste für den Übergang schnell in irgendeine Wohnung ziehen. Mithilfe einer Freundin fand ich als Übergangslösung eine Ferienwohnung. Darin hatte ich allerdings weder meine eigenen Möbel noch viel Kleidung etc. Die Wohnung war eigentlich nicht zum dauerhaften Wohnen gedacht und deshalb sehr eng, dunkel und vollgestellt. Auch die Heizung funktionierte nicht wirklich. In dieser Phase lernte ich meine Ergotherapeutin kennen. Es war also bereits klar, dass ich in dieser Wohnung nicht bleiben werde. Wir erarbeiteten dann gemeinsam, wo ich stattdessen leben möchte und was ich tun muss, um eine Wohnung zu bekommen. Wir formulierten zum Beispiel Bewerbungen für Wohnungsbaugesellschaften.
Wenn Sie an Ihre Erfahrungen mit Psychotherapie und Ergotherapie denken – wie haben Sie die beiden Therapieformen im Vergleich erlebt?
Der Unterschied ist der: Bei einer Psychotherapie gehen Sie aus Ihrer Lebenssituation heraus zum Therapeuten oder zur Therapeutin und befinden sich dann auf einer Insel. Wenn Sie in einer Klinik sind, dann wird für Sie gesorgt. Ich hatte dort das Gefühl, erst mal ankommen und einfach nur sein zu können. Was dort angeboten wird, sind ein Sportprogramm und therapeutische Angebote vorwiegend im körperlichen Bereich. Es wird für einen eingekauft und gekocht. Vielleicht 1x pro Woche findet Gruppen- und Einzeltherapie statt, aber die Zeiten, in denen jemand nur für einen da ist, sind doch sehr eingeschränkt. Wenn man in eine Psychotherapie geht, befindet man sich immer außerhalb seiner Lebenssituation. Was dort passiert, hat nichts mit dem wirklichen Leben zu tun. Das erlebe ich zum Beispiel auch in Selbsthilfegruppen. Jeder erzählt von den Dingen, die ihn bewegen. Das ist für den Moment sehr hilfreich. Aber danach muss man zurück in sein Leben, in dem man diese extreme Kraftlosigkeit und Hilflosigkeit erlebt.
Ergotherapie stellt dagegen eine Verbindung zum Alltag her. Das hätte keine Psychotherapie leisten können. Zu dieser hätte ich erst mal hinfahren müssen, ich war aber hilf- und energielos. Und da hat mich meine Ergotherapeutin abgeholt. Sie ist zu mir gekommen und hat mich da aufgefangen, wo ich war.
Was meinen Sie: War es die gute Beziehung zur Ergotherapeutin, die Ihnen geholfen hat, war es die Therapie an sich – oder beides?
Ich denke, beides hatte einen Einfluss. Aber ganz wichtig ist mir der Aspekt, dass man da abgeholt wird, wo man ist. Da, wo man lebt. Das ist der entscheidende Punkt, der die Ergotherapie von den anderen Therapieformen unterscheidet und sie meiner Meinung nach deutlich effektiver macht. Wenn ich mir überlege, dass eine Psychotherapie 150 bis 200 € in der Stunde kostet, dann ist das kein Verhältnis zur Ergotherapie.
Ergotherapie stellt eine Verbindung zum Alltag her, die keine Psychotherapie leisten kann.
Wie könnte man den Zugang zu Ergotherapie erleichtern? An welchen Stellen sollten Patient*innen optimalerweise davon erfahren?
Da sagen Sie etwas ganz Wichtiges. Die Information über Ärzt*innen findet gar nicht statt. Sie sind überlastet und haben maximal 5 bis 10 Minuten Zeit für einen Patienten oder eine Patientin. Wenn man Glück hat, hat man einen Arzt oder eine Ärztin seines Vertrauens, der oder die nicht nur auf den Bildschirm, sondern einem auch in die Augen schaut. Sich vorrangig an Ärzt*innen zu wenden, ist meiner Meinung nach kein guter Multiplikator.
Eine andere Möglichkeit wäre, eine Öffentlichkeit herzustellen, um Erfolgsgeschichten zu verbreiten. Zum Beispiel in Selbsthilfegruppen oder bei Organisationen. Auch Krankenkassen müssen darüber informiert werden, was Inhalte der Ergotherapie sind. Ich habe das Gefühl, dass die Mitarbeitenden bei den Krankenkassen überfordert sind und nicht das nötige Hintergrundwissen haben.
Ergotherapeut*innen könnten zum Beispiel damit anfangen, auf der Homepage genau darzustellen, welche Leistungen sie überhaupt anbieten. Die Internetseiten sind oft sehr oberflächlich gestaltet, und psychisch-funktionelle Behandlung taucht nur sehr selten auf. Und selbst, wenn sie genannt wird, kann ich mir als Patientin nicht wirklich etwas darunter vorstellen.
Das Gespräch führte Simone Gritsch.
Erfolgsgeschichten zu teilen, entwickelt unser Handeln weiter und stärkt unsere Berufsidentität. Barbara Aegler, Céline Delmée und Anne Truninger riefen „ergostories“ ins Leben, um Erfolge in der Ergotherapie sichtbar zu machen und die Bekanntheit des Berufes zu steigern. Auf dem ergopraxis-Tag berichten sie über das Projekt.
Mehr Informationen zum ergopraxis-Tag am 28. Januar 2024 in Stuttgart finden Sie hier: thieme.com/ergotage.
Publication History
Article published online:
04 January 2024
© 2024. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany