Klin Padiatr 2024; 236(01): 47-49
DOI: 10.1055/a-2194-9333
Kurzmitteilung

THC Edibles- für Kinder ebenso attraktiv wie gefährlich: Ein Fallbericht

Thc Edibles in Children – Appealing and Even More Dangerous: A Case Report
1   Poison Information Center VIZ-Freiburg, Medical Center-University of Freiburg Center for Pediatrics, Freiburg, Germany
,
Hannah Mathieu
1   Poison Information Center VIZ-Freiburg, Medical Center-University of Freiburg Center for Pediatrics, Freiburg, Germany
,
Michaela Sommer
2   Forensic Toxicology, University Hospital Freiburg Institute of Forensic Medicine, Freiburg, Germany
,
Volker Auwärter
2   Forensic Toxicology, University Hospital Freiburg Institute of Forensic Medicine, Freiburg, Germany
,
Maren Hermanns-Clausen
1   Poison Information Center VIZ-Freiburg, Medical Center-University of Freiburg Center for Pediatrics, Freiburg, Germany
› Author Affiliations

Einführung

In den USA wurde in den Bundesstaaten, die Cannabis legalisiert haben, in den darauffolgenden Jahren eine starke Zunahme von kleinkindlichen Ingestionsunfällen beobachtet [Onders B. et al., Clin Pediatr (Phila). 2016; 55: 428–36]. Angesichts der bevorstehenden Cannabislegalisierung könnte für Deutschland eine ähnliche Entwicklung zu befürchten sein.

Kindliche Intoxikationen nach Verschlucken von Cannabiszubereitungen verlaufen mehrheitlich asymptomatisch oder leicht (>80%). Bis zu 18% der betroffenen Kleinkinder benötigten jedoch eine intensivmedizinische Therapie wegen Ateminsuffizienz (Intubationsrate 6%), Herzrhythmusstörungen und/oder Krampfanfällen [Richards JR et al., J Peds. 2017; 190: 142–152]. Besonders attraktiv für Kinder sind sog. Edibles (mit THC versetzte Lebensmittel), d. h. Zubereitungen wie Gummibärchen, Kekse oder Brownies. Im Internet kursieren Rezepte zur Eigenherstellung, daneben sind jedoch auch auf dem europäischen Markt in den USA gefertigte Süßigkeiten wie Gummibärchen oder Schokolade, die mit (–)-Δ9-trans-Tetrahydrocannabinol (Δ9-THC) angereichert wurden, erhältlich.

Wir stellen hier eine Vergiftung durch ein derartiges Produkt mit laborchemisch nachgewiesenen Konzentrationen von THC und dessen Abbauprodukten vor, die einen vergleichsweise langen Verlauf nahm.

Fall

Ein 10-jähriger Junge verspeiste am Abend den gesamten Inhalt einer Packung sog. „Medicated nerds“ seines großen Bruders mit insgesamt 600 mg Δ9-THC, welche er für normale Süßigkeiten hielt (siehe [Abb. 1]). „Nerds“ ist ein eingetragener Handelsname der amerikanischen Firma Wonka für eine Süßigkeit aus bunten Zuckerkügelchen.

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Abb. 1 Ingestierte Packung "Medicated Nerds", Quelle: Rechtsmedizin Universitätsklinik Freiburg.

Bereits dreißig Minuten nach Einnahme traten Angst, Unruhe, Zittern, Schwindel und Herzrasen auf.

Nachts entwickelte er Fieber bis 39,5 °C, welches die Eltern mit 200 mg Ibuprofen-Saft senken konnten. Aufgrund zunehmender Müdigkeit, verbaler Aggressivität und beginnenden Halluzinationen im Laufe des nächsten Vormittages schöpften die Eltern Verdacht und suchten eine Kinderklinik auf.

Bei der Aufnahme in der Kinderklinik (circa 18 Stunden nach Ingestion) befand sich der 10-Jährige (Körpergewicht 41 kg, keine Vorerkrankungen) in reduziertem Allgemeinzustand. Es bestand eine ausgeprägte beidseitige Mydriasis, stark gerötete Konjunktiven und Blässe. Die Bewusstseinslage war somnolent bis soporös, die Sprache verwaschen. Während der Aufnahmeuntersuchung erbrach der Junge einmalig. Euphorie und Dysphorie wechselten sich ab und er war orientiert zu Zeit und Ort, nicht zur Person. Die übrigen Untersuchungsbefunde waren unauffällig (Blutdruck 109/68 mm Hg, Puls 84/min, Körpertemperatur 37,6°C, Sauerstoffsättigung 98%, Atemfrequenz 19/min).

Das EKG war jederzeit unauffällig. Ein 12-Kanal-EKG wurde bei Aufnahme (18 Stunden nach Ingestion) und am Entlasstag (36 Stunden nach Ingestion) geschrieben, auf der Intensivstation fand ein kontinuierliches EKG-Monitoring statt. Laborchemisch wurde ein ebenso unauffälliger Befund erhoben (Blutbild, Blutzucker, Elektrolyte, BGA).

Ein Drogen-Immunoassay in der Kinderklinik verlief positiv auf Cannabinoide. Urin und Serum wurden zusätzlich in der Rechtsmedizin per LC-MSn (Toxtyper, Drogen- und Medikamentenscreening) und gezielten LC-MS/MS-Screenings untersucht. Im Serum konnten ca. 24 Stunden nach Einnahme folgende Konzentrationen gemessen werden, dargestellt in [Tab. 1]:

Tab. 1 Serumkonzentrationen von Δ9-THC, 11-Hydroxy-Δ9-tetrahydrocannabinol (11-Hydroxy-THC) und 11-Nor-delta-9-tetrahydrocannabinol-9-carbonsäure (THC-COOH). Das Verhältnis von Δ9-THC zu 11-Hydroxy-THC beträgt für den präsentierten Fall 5,2:1.

präsentierter Fall, Werte ca. 24 h p.i.

Vergleich mit 10 mg THC, Spitzenspiegel 1–2 h p.i. nach Nadulski T et al.

Substanz/Metabolit

Konzentration [ng/mL]

Konzentration [ng/mL]

Δ9-THC

2,3

3,20

11-Hydroxy-THC

12

4,48

THC-COOH

950

32,9

Außer Ibuprofen wurden keine weiteren Substanzen nachgewiesen. Es fand eine klinische und telemetrische Überwachung bis zur Symptomfreiheit statt; die Therapie gestaltete sich rein supportiv.

Bis 24 Stunden nach Ingestion der vermeintlichen Süßigkeiten bestand eine ausgeprägte Vigilanzminderung mit Halluzinationen. Innerhalb der nächsten 12 Stunden verbesserte sich der klinische Zustand des Jungen, und er konnte 36 Stunden nach Ingestion in die elterliche Obhut entlassen werden.


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Publication History

Article published online:
21 November 2023

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