Klinische Neurophysiologie 2024; 55(02): 115-116
DOI: 10.1055/a-2284-8771
In der Praxis

Offene Sprechstunde

Walter Raffauf

Wie sind Sie krankenversichert? Gesetzlich oder privat? Wenn Sie in einer gesetzlichen Kasse sind, kennen Sie dann alle „Kniffe“, um zeitnah in eine fachärztliche Behandlung zu kommen?

In überregionalen Tageszeitungen erscheinen seit der Einführung des Terminservice- und Versorgungsgesetzes (TSVG) im Jahr 2019 immer wieder Artikel über die verschiedenen Arten des raschen Zugangs zum Facharzt in Deutschland. (Ich bitte die österreichischen und schweizerischen Kollegen um Entschuldigung, bin aber neugierig zu erfahren, wie das bei Ihnen geht.) Da gab es z. B. die im Rahmen dieses Gesetzes vom damaligen Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) eingeführte sog. „Neupatientenregelung“, die Kassenärzte dabei unterstützen sollte, Patienten anzunehmen, die noch nicht seit Jahren in ihrer Kartei sind. Leider wurde sie nach dem letzten Regierungswechsel vom neuen Ressortchef (SPD) 2 Jahre nach ihrer Einführung – ohne die eigentlich übliche Evaluation – wieder einkassiert, weil sie angeblich nichts bringe. Kern dieser Regelung war, dass die bei neuen Patienten erbrachten Leistungen am Ende des Quartals nicht gleich wieder abgestaffelt und in ein Budget verschoben wurden, sondern unbudgetiert nach der bestehenden Gebührenordnung EBM vergütet wurden, so wie eigentlich alle ärztlichen Leistungen vergütet werden sollten.

Für die Vertragsärzte hat die Abschaffung dieser Regelung einen Honorarverlust bedeutet, und die Aufnahme von neuen Patienten wurde mit großer Wahrscheinlichkeit gebremst. Wer neu in der Praxis kommt, häufig mit einer dicken Akte der verschiedenen Vorbehandler, kostet viel Zeit, die nicht extra honoriert wird. Der Terminkalender in neurologischen Praxen ist ohnehin voll. Und wenn das Regelleistungsvolumen (RLV – die Summe, die man pro Quartal erwirtschaften kann und die einem vor Quartalsbeginn von der Kassenärztlichen Vereinigung mitgeteilt wird) schon vor Quartalsende erreicht ist, behandelt man ab diesem Zeitpunkt zumindest die GKV-Patienten unbezahlt.

Krankheiten halten sich natürlich nicht an Finessen der Gebührenordnungen, und meine Vorstellung ist, dass wir krankenversichert sind, damit wir zum Arzt gehen können, wenn wir krank sind – besonders natürlich, wenn wir akut krank werden.

Unter den verschiedenen Neuerungen, die das TSVG mit sich gebracht hat und die bisher nicht wieder gestrichen wurden, ist die sog. „offene Sprechstunde“: Jeder Vertragsarzt (zumindest in den meisten Fachrichtungen) ist verpflichtet, von den 25 Sprechstunden, die er in der Woche anbieten muss, 5 Stunden offen zu halten für Patienten, die nicht schon Monate vorher im Kalender stehen.

Jeder handhabt das ein bisschen anders. In unserer Praxis gibt es feste Zeiten für diese offenen Sprechstunden, z. B. gleich am Montagmorgen. Nach der Teambesprechung um 8 Uhr machen wir um 9 Uhr die Tür auf. Während der montäglichen Runde ist die Klingel stumm, damit wir unsere Tagesordnung in Ruhe abarbeiten können und uns auf den Ansturm vorbereiten können. Meist stehen schon vor 9 Uhr eine ganze Reihe Menschen vor der Tür, die in die offene Sprechstunde möchten.

Wir Ärzte kennen alle Patienten, bei denen wir uns fragen, warum sie gerade jetzt akut kommen, obwohl sie seit Jahren Beschwerden haben. In diesen Fällen hilft nur Geduld. Herausfordernder sind Menschen, bei denen man verzweifelt, wenn man hört, wie sie sich in die Situation hineinmanövriert haben, die sie in der Akutsprechstunde präsentieren, und die plötzlich mit einer schwierigen Symptomatik vor einem stehen, für die man in der offenen Sprechstunde zunächst nicht mehr als 10 Minuten Zeit hat. Von so einem Fall möchte ich hier berichten:

Fallbeispiel

Ein 22-jähriger Mann kommt ohne Voranmeldung in die Praxis und klagt über sehr starke Schmerzen in beiden Füßen. Er trägt einfache Badeschlappen, keine Strümpfe und kann kaum auftreten. Lässt man ihn barfuß gehen, sieht es aus, als wenn er den Kontakt seiner Fußsohlen mit dem Boden vermeiden wolle. Nur auf den Außenkanten der Füße kann er etwas gehen. Jeder Schritt ist ihm unangenehm [Abb. 1]. Dies sei seit etwa 2 Wochen so.

Zoom Image
Abb. 1 Standbild aus einer Videoaufnahme des Patienten.

Eine klinisch-neurologische Untersuchung ist nur schwer durchführbar: An den oberen Extremitäten finden sich keine Auffälligkeiten, insbesondere hier lebhafte Reflexe. An den unteren Extremitäten ist der Patellarsehnenreflex (PSR)schwach und der Achillessehnenreflex (ASR) beidseits fehlend. Es scheint eine leichte Schwäche der Fußmuskeln sowie der Fußheber- und Fußsenkermuskulatur beidseits vorzuliegen. Der Patient gibt eine beidseitige strumpfförmige Hypästhesie und eine Pallanästhesie der Füße an. Die Füße sind äußerlich rot und sehr schwitzig. Im Vordergrund steht aber eine ausgeprägte Allodynie beider Füße.


Während der Untersuchung erzählt er, dass er seinen Diabetes Typ I seit 2 Jahren nicht behandelt habe, weil sein Blutzuckermessgerät abhandengekommen sei. Vor eineinhalb Monaten habe er eine schwere Mandelentzündung bekommen, die zur stationären Aufnahme in einer Klinik geführt habe. Außerdem habe er in den letzten Monaten stark an Gewicht abgenommen und sich insgesamt sehr schwach gefühlt.


In der Klinik war die Diagnose eines ketoazidotisch entgleisten Diabetes mit Hypokaliämie, Ketoazidose und einem HBa1C von 11,4% diagnostiziert worden. Erschreckt durch diese Konstellation, sei in der Klinik sofort mit einer Insulinbehandlung begonnen worden. Diese ließ den HBa1C im Zeitraum von eineinhalb Monaten auf einen Wert von 5,8% am Tag der Vorstellung in unserer Praxis sinken. Die heftigen Schmerzen, die zur Vorstellung bei uns geführt haben, hatten sich 4 Wochen nach Beginn der Insulinbehandlung entwickelt.


In der neurografischen Untersuchung konnten vom N. peroneus und vom N. tibialis beidseits nur sehr niedrigamplitudige Potenziale abgeleitet werden. Das Suralispotenzial hatte links eine kleine Amplitude und war rechts normal. Die Nervenleitgeschwindigkeiten lagen sensibel und motorisch durchweg im Normbereich.


Im Elektromyogramm (EMG) des M. tibialis anterior auf beiden Seiten reichlich pathologische Spontanaktivität in Form von Fibrillationen und positiven scharfen Wellen. Daneben auch Faszikulationen und einzelne komplexe repetitive Entladungen. Die Polyphasierate war deutlich erhöht. Der elektrophysiologische Befund sprach insgesamt für eine ausgeprägte, motorisch betonte, axonale Polyneuropathie.

Haben Sie aufgrund der Anamnese, der Klinik und der erhobenen Befunde vielleicht eine Verdachtsdiagnose?

1933 wurde ein ähnlicher Fall erstmalig von Caravati als „Insulin-Neuritis“ beschrieben, weil er bei seiner Patientin beobachtet hatte, dass sich ihre Schmerzen besserten, als Insulin abgesetzt wurde und der Blutzucker wieder anstieg. Damals nahm man an, dass die Beschwerden durch eine Allergie gegen Insulin verursacht würden. Heute ist das eher seltene Krankheitsbild unter dem Akronym TIND bekannt. Dies steht für „therapieinduzierte Neuropathie bei Diabetes“. Denn nicht immer ist Insulin im Spiel, auch eine forcierte Blutzuckernormalisierung durch eine strenge Diät kann das Krankheitsbild auslösen.

Charakteristisch ist die Entwicklung akuter neuropathischer Schmerzen sowie autonomer Symptome inklusive einer orthostatischen Dysregulation innerhalb von 8 Wochen nach Beginn der Blutzuckernormalisierung. Anders als bei der häufigen diabetischen Polyneuropathie finden sich bei den Patienten mit der TIND in der Neurografie normale Nervenleitgeschwindigkeiten.

Die Krankheit kommt häufiger beim Diabetes Typ I, gelegentlich aber auch beim Diabetes Typ II vor. Sie korreliert mit der Verschlechterung diabetogener mikrovaskulärer Komplikationen, z. B. einer Retinopathie oder Nephropathie. Der genaue pathophysiologische Mechanismus ist bisher nicht bekannt. Eine Vermutung ist, dass es durch einen relativen Glukosemangel des Neurons zu einem Kollaps des axonalen Transportes kommt.

Die Befunde unseres Patienten interpretierten wir einerseits als Ausdruck einer schon länger bestehenden diabetische Polyneuropathie mit motorischer Symptomatik und pathologischem EMG-Befund und andererseits als Ausdruck einer Small-Fiber-Neuropathie im Sinne eines TIND mit starken Schmerzen und autonomen Symptomen im Vordergrund. Der Patient wurde wegen seiner Schmerzen symptomatisch mit 2-mal 300 mg Pregabalin, 25 mg Amitriptylin und Lidocainpflaster behandelt. Die Schmerzsymptomatik besserte sich hierunter im Laufe von Wochen.

Zur Vermeidung der therapieinduzierten Neuropathie wird eine nur langsame Senkung des HBa1C empfohlen. Anhaltswert ist eine Senkung um 2% innerhalb von jeweils 3 Monaten.

Ich denke, wir sind uns einig, dass dieser Patient akut zum Neurologen gehörte und nicht unter Hinweis auf einen vollen Kalender am Tresen abgewiesen werden konnte. Den „richtigen Riecher“ für die Akuität mancher Krankheitsbilder muss v. a. die Mitarbeiterin in der Anmeldung oder am Telefon haben – womit wir wieder bei der Teambesprechung sind, in der wir berufsgruppenübergreifend über unsere Patienten sprechen, bevor wir die Tür aufschließen für die nächste offene Sprechstunde.



Publication History

Article published online:
22 May 2024

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  • Literatur

  • 1 Gibbon CH. Treatment induced neuropathy of diabetes in Auton Neurosci. 2020; 226: 102668
  • 2 Gesetz für schnellere Termine und bessere Versorgung (Terminservice- und Versorgungsgesetz – TSVG). Bundesgesetzblatt Jahrgang 2019 Teil I Nr. 18, ausgegeben zu Bonn am 10. Mai 2019