Zeitschrift für Palliativmedizin 2024; 25(03): 117-122
DOI: 10.1055/a-2291-8061
Forum

Doppelkopf: Verena Wetzstein und Stephan Sahm

Verena Wetzstein

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Wie kamen Sie in Ihr jetziges Tätigkeitsfeld?

Seit wenigen Jahren habe ich die Diözesane Fachstelle Palliative Care im Erzbistum Freiburg inne. Zu meinen Aufgaben gehört unter anderem die Leitung des Palliative Care Forums, einer Initiative der Erzdiözese Freiburg, die es sich zum Ziel gesetzt hat, gemeinsam mit vielen Partnern die Themen Sterben, Tod und Trauer in die Alltagswirklichkeit der Menschen zu rücken. Das drückt sich auch im Motto aus: „Gemeinsam Sorge tragen.“Verortet ist meine Stelle an der Katholischen Akademie Freiburg, dort bin ich seit 2002 Studienleiterin, ich bin also im engeren Sinne in der Erwachsenenbildung tätig. Als Studienleiterin war ich zunächst mit den medizinethischen Themen befasst. Seit 2018 darf ich mich ganz den Themen der Palliative Care widmen. Das heißt, zu meiner Tätigkeit gehört es auch, Veranstaltungen – Tagungen, Vorträge, Seminare etc. – zu planen, zu organisieren und durchzuführen. Manchmal halte ich Vorträge und Workshops auch selbst, das aber selten im eigenen Haus. Die Bildungsarbeit erlebe ich als eine ungeheuer bereichernde Tätigkeit. Ich schätze es sehr, Referentinnen und Referenten miteinander in Kontakt bringen zu dürfen, Themen voranbringen zu können und Teilnehmende zu begrüßen und mit ins Gespräch einzubinden. Oft suchen wir und ringen um Positionen und Meinungen, bisweilen geht es bei den Veranstaltungen hoch her, schließlich geht es ja oft „ans Eingemachte“. Manchmal gehen die Veranstaltungen bis weit in die Nacht, weil es so vieles auszutauschen gibt.Studiert habe ich ursprünglich Germanistik und Katholische Theologie. Mein Berufswunsch war zunächst Lehrerin. Nachdem mir mein theologisch-ethischer Lehrer, Eberhard Schockenhoff, die Möglichkeit zur Promotion angeboten hatte, habe ich mich zunächst dem Thema Demenz aus ethischer Sicht zugewandt und darüber gearbeitet. In dieser Zeit und darüber hinaus habe ich die wissenschaftliche Redaktion der Zeitschrift für medizinische Ethik verantwortet. Vielleicht kennen Sie die Zeitschrift ja? Diese Tätigkeit hat mich wiederum qualifiziert für die Studienleiterstelle an der Katholischen Akademie. So bin ich zwar nicht im Schuldienst, aber doch in der Bildung angekommen.Dass sich mein Arbeitsfeld thematisch noch einmal verändert hat, und ich von der Medizinethik in die Palliative Care gewechselt bin, empfinde ich als einen organischen Wachstumsprozess. Die Beschäftigung mit Themen der Palliative Care hängt mit meiner Leidenschaft für die ethischen Themen am Lebensende einerseits und dem Wunsch des Erzbischofs von Freiburg andererseits zusammen. Auf seinen Impuls hin arbeiten wir verstärkt über die Themen Sterben, Tod und Trauer, die ja letztlich auch Fragen sind, die zum „Markenkern“ der christlichen Botschaft gehören.Um mich auch explizit weiterzubilden, habe ich ein Masterstudium der Palliative Care bei Frau Prof. Becker in Freiburg angeschlossen. Ich habe so vieles dabei lernen dürfen, dafür bin ich sehr dankbar.Meine Kollegen sagen, man merkt es meiner Herangehensweise an die palliativen Themen an, dass mein Denken von der christlichen Ethik her kommt. Ich empfinde das als Kompliment und erlebe es in meiner Arbeit als eine gegenseitige Bereicherung der Disziplinen. Gegenwärtig befasse ich mich viel mit den Themen Suizidhilfe, Spiritual Care und Caring Community: Wie können wir sterbende Menschen umfassend gut begleiten – und wie kann die gemeinsame Sorge um Menschen am Lebensende und ihre Angehörigen in die Gesellschaft getragen werden?

Was wäre für Sie die berufliche Alternative?

In der Palliative Care-Bildungsarbeit fühle ich mich am richtigen Platz. Das hat zum einen damit zu tun, dass es fachlich und menschlich so kompetente Referentinnen und Referenten gibt, die ich einladen und miteinander in Kontakt bringen darf – und von denen ich lernen darf. Das hängt zum anderen auch mit dem zusammen, was Teilnehmende bei und nach Veranstaltungen von sich und ihrer Tätigkeit berichten. Sehr berührend. Und mich erfüllt es mit Freude und Demut, mit daran zu wirken, dass wir die Welt durch unser Tun vielleicht ein kleines bisschen besser machen.Eine Alternative? Ganz klar: Ärztin hätte ich mir auch vorstellen können. Das Studium der Theologie und die Frage nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält, möchte ich aber nicht missen.Im Kindergartenalter war mein großer Berufswunsch übrigens Straßenbahnfahrerin: Aus unserem Vorort herauskommen und den großen Wagen durch die (mir damals unbekannte) weite Welt Mannheims zu steuern, das schien mir ungeheuer erstrebenswert. – Neulich stand in der Zeitung, dass die Freiburger Verkehrsbetriebe auf der Suche nach Fahrern und Fahrerinnen sind – vielleicht wird ja noch was draus?

Wie beginnen Sie Ihren Tag?

In der Regel schaue ich, dass ich die erste in der Familie bin, die aufsteht. Ich genieße die halbe Stunde, die mir alleine in der Küche bleibt, eine erste Tasse Kaffee und ein Blick in die Zeitung, bevor es gilt, das Frühstück und Vesper für unsere Kinder zu richten. Wenn vorlesungsfreie Zeit und mein Mann zu Hause ist, nehmen wir uns meist noch gemeinsam einen Moment für die Zeitungslektüre. Das gelingt aber nicht immer, oft drängt schon eine erste Besprechung oder eine Zoom-Konferenz in der Akademie.

Leben bedeutet für mich …

… in Beziehung sein: mit meiner Umwelt und besonders mit lieben Menschen, etwa mit meinem Mann, meinen beiden Kindern, meinem 96-jährigen Vater, Freundinnen und Freunden, lieben Kollegen und Kolleginnen und anderen. Dass wir uns miteinander freuen können und auch schwere Zeiten aushalten – das ist es, was ich unter Martin Bubers bekanntem Diktum verstehe: Alles wirkliche Leben ist Begegnung. Letztlich meint Leben für mich neben der Beziehung zu meinen Mitmenschen und meiner Umwelt auch die Beziehung zu mir selbst und meine Beziehung zu Gott.

Sterben bedeutet für mich …

… einen Übergang in ein anderes Leben. Im Alter von etwa 10 Jahren war ich das erste Mal bei einer Beerdigung dabei und mich hat der alte Hymnus schon damals tief beeindruckt, den der Priester auf dem Weg zum Grab betet: „Zum Paradies mögen Engel dich geleiten, die heiligen Märtyrer dich begrüßen und dich führen in die heilige Stadt Jerusalem. Die Chöre der Engel mögen dich empfangen und durch Christus, der für dich gestorben, soll ewiges Leben dich erfreuen.“ Als 10-Jährige habe ich mir diesen Triumphzug bildlich vorgestellt und dieses Empfangskomitee gefällt mir noch heute. So hoffe ich für mich und alle Gestorbenen, im Jenseits empfangen zu werden!

Welches Ziel möchten Sie unbedingt noch erreichen?

Hätten Sie mir diese Frage vor ein paar Wochen gestellt, hätte ich geantwortet: meine Masterarbeit (Palliative Care) abschließen. Aber das konnte ich inzwischen zum Glück schon tun.Beruflich habe ich das Ziel, das Motto des Palliative Care Forums, „Gemeinsam Sorge tragen“, weiter Wirklichkeit werden zu lassen. Es ist eine Binsenweisheit, dass Sterben uns alle angeht. Aber erst, wenn wir noch mehr Menschen miteinander vernetzen und mit dem Palliative Care-Gedankengut vertraut machen, wird es uns möglicherweise gelingen, dem Sterben in der Alltagswirklichkeit einen Ort zu geben. Caring Communities sind etwa auf einem solchen Weg. Dafür braucht es gute Bildungsarbeit – und Menschen, die sich dafür engagieren und begeistern lassen.

Meine bisher wichtigste Lernerfahrung im Leben ist …

… zu ahnen, dass die Wirklichkeit im Vorhandenen nicht aufgeht.

Was würden Sie gern noch lernen?

So vieles! Nochmal an mein Germanistik-Studium anknüpfen und meine Literaturkenntnisse weiter vertiefen; mein Bemühen um die klassische Gitarre wieder aufnehmen; gerne noch Italienisch fließend sprechen lernen … Darf ich auch etwas bei mir gänzlich Talentfreies nennen? Fotografieren! Ich staune immer wieder, wenn mein Mann und ich dasselbe Motiv ablichten. Während er kalenderreife Fotos anfertigt, sehen meine Bilder immer nach nichts aus. Dabei können Bilder so ästhetisch und wunderbar sein.

Woraus schöpfen Sie Kraft für Ihre Arbeit?

Kraft schöpfe ich aus meinen Beziehungen: in einer ersten Dimension aus meiner Gottesbeziehung, also aus meinem Glauben, und meinem daraus gewonnenen Gefühl von Aufgehobensein in der Welt. In einer zweiten Dimension aus meiner Beziehung zu mir selbst und meinen Mitmenschen: Zur Ausbildung als Theologin gehört, die Selbstreflexion als Methode in den Arbeitsalltag zu integrieren. Das hilft mir, meinem eigenen Leben Raum zu geben. In einer dritten Dimension schöpfe ich aus meiner Arbeit selbst Kraft: aus der Ahnung, etwas Sinnstiftendes zu tun.

Mit wem aus der Welt- oder Medizingeschichte würden Sie gern einmal einen Abend verbringen?

Aus der Medizingeschichte fällt mir als erstes Alois Alzheimer ein. Im Rahmen meiner theologischen Dissertation zu einer Anthropologie der Demenz habe ich mich am Rande mit ihm beschäftigt. Ich würde gerne mit ihm ins Gespräch kommen – erfahren, wie er sich als Psychiater um die Jahrhundertwende beschreibt.In dieselbe Zeitgeschichte fällt eine Frau, mit der ich mich gerne einmal unterhalten würde: Käthe Kollwitz. Sie muss eine starke Frau gewesen sein, die viele Schicksalsschläge in kreatives Tun umgesetzt hat und damit als Künstlerin erfolgreich wurde. Ich würde ausgehend von ihrer Skulptur „Mutter mit totem Sohn“ (die in der Neuen Wache in Berlin an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft erinnern soll) gerne mit ihr über die Verantwortung des Einzelnen in der Welt ins Gespräch kommen.

Wenn ich einen Tag unsichtbar wäre, würde ich …

Das klingt für mich nicht attraktiv. Spürbare Begegnungen und sichtbare Momente sind für mich bedeutsamer.

Wie können Sie Stephan Sahm beschreiben?

Stephan Sahm ist ein ganz feiner Mensch. Er war mir nicht nur als Autor aus der FAZ, sondern vor allem aus der medizinethischen Literatur bereits bekannt, bevor wir uns das erste Mal bei einer Sitzung des Beirats der Zeitschrift für medizinische Ethik begegnet sind. Seine Studie zu Patientenverfügungen ist ein Meilenstein in der deutschsprachigen medizinethischen Literatur zum Thema.Seit einigen Jahren sind wir als Kollegen Mitglieder im Ethikrat des Bistums Trier. Der Ethikrat bearbeitet konkrete ethische Fragestellungen, die sich für die Einrichtungen der Träger stellen. Gemeinsam haben wir uns dazu zu konkreten Themen wie Suizidhilfe, freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit oder der gesundheitlichen Vorausplanung geäußert. Das Ringen im Rat um ethisch vertretbare Argumentationen wird oftmals durch Stephan Sahms kompetente und sachkundige Expertise in ethischen und palliativmedizinischen Themen zu einem zielführenden Unterfangen. Das hat mich von Anfang an beeindruckt und ich bin dankbar, dass wir so manches gemeinsam auf den Weg bringen konnten.Was nicht alle wissen: Stephan Sahm ist ungeheuer musikalisch. Neben seinen Verpflichtungen in der Offenbacher Klinik und der medizinethischen Lehre in Frankfurt komponiert er, und leitete schon verschiedene Chöre. Ich freue mich in der Adventszeit immer darauf, wenn als Weihnachtsgeschenk ein selbst komponiertes Lied von ihm ankommt – ich hoffe sehr, das ist mir und anderen noch viele Jahre vergönnt.Stephan Sahm ist klug, charmant, kreativ und musikalisch – und sein Tag hat sicherlich jeweils mehr Stunden als meiner.

Wie beenden Sie Ihren Tag?

Mit dem Nunc dimittis, dem Lobgesang des Simeon, also dem Nachtgebet der Kirche: „Nun lässt Du Herr, Deinen Knecht, in Frieden scheiden …“Das ist übrigens auch ein Sterbegebet.

Gibt es etwas, das Sie gern gefragt worden wären, aber noch nie gefragt worden sind?

„Du hast drei Wünsche frei.“ – Oh, Verzeihung, das ist ja keine Frage.

Zur Person

Dr. theol. Verena Wetzstein, geb. 1970 in Mannheim.

Ich lebe in Freiburg im Breisgau mitten in der Altstadt, in der Nähe des Freiburger Münsters. Aufgewachsen bin ich im schönen Mannheim. Nach dem Abitur habe ich in einem Altenpflegeheim gearbeitet – das prägt mich bis heute. Mein Studium der Theologie und Germanistik habe ich in Heidelberg, Freiburg und Fribourg in der Schweiz absolviert. In Fribourg durfte ich neben dem Studium ein Jahr in einer Arche-Gemeinschaft leben, einer Gemeinschaft, in der Menschen mit und ohne Behinderung ihren Alltag teilen. Während meines Hauptstudiums habe ich dann die Ethik als Disziplin entdeckt. Die medizinethischen Themen haben mich da am meisten fasziniert.

An mein Studium habe ich schließlich eine theologisch-ethische Dissertation zum Thema Alzheimer-Demenz angeschlossen. In der Zeit hatte ich bereits als Wissenschaftliche Redakteurin der Zeitschrift für medizinische Ethik an der Universität Freiburg gearbeitet. Diese Tätigkeit habe ich insgesamt 15 Jahre ausgeübt.

Seit 2002 bin ich mit großer Freude Studienleiterin der Katholischen Akademie Freiburg. Zunächst habe ich dort den weiten Bereich der medizin-ethischen Themen verantwortet. Seit 2018 darf ich mich den Themen der Palliative Care widmen. Als Inhaberin der Diözesanen Fachstelle Palliative Care und Leiterin des Palliative Care Forums, einer Initiative der Erzdiözese Freiburg, geht es mir gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen darum, die Themen Sterben, Tod und Trauer in die Alltagswirklichkeit der Menschen zu rücken.

Seit 2008 bin ich Mitglied im Ethikrat des Bistums Trier. Vor Kurzem durfte ich den Masterstudiengang Palliative Care an der Universität Freiburg abschließen. In meiner Masterarbeit habe ich mich mit dem Thema Ethikberatung in der SAPV beschäftigt.



Publication History

Article published online:
29 April 2024

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