DO - Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 2024; 22(04): 25-26
DOI: 10.1055/a-2293-8342
Praxis | Interview

Im Gespräch mit … Paolo Tozzi

Übersetzung: Renate Schilling

Michael Biberschick: Darf ich Sie bitten, sich kurz vorzustellen und die einzelnen Stationen Ihrer osteopathischen Karriere zu beschreiben?

Paolo Tozzi: Ich habe vor 25 Jahren als Physiotherapeut angefangen. Dann habe ich eine Osteopathieausbildung in Großbritannien an der ESO (European School of Osteopathy) absolviert, anschließend in Deutschland (Dresden) einen Master of Science in Osteopathie erworben und schließlich bei der Association Internationale Jean Monnet in Belgien eine Ausbildung in Posturologie abgelegt. Außerdem habe ich eine Ausbildung zum Reiki-Meister gemacht. Bei Reiki handelt es sich um eine Art energetischer Medizin, die sich ganz gut mit der Osteopathie verbinden lässt. Zusätzlich habe ich, wie jeder Osteopath, verschiedene Postgraduiertenkurse und integrative Kurse besucht, u. a. einen zweijährigen Kurs in Posturalanalyse, bei dem sowohl manuelle als auch instrumentelle Tests gelehrt wurden. Schon vor Jahren habe ich begonnen, selbst zu unterrichten. Später habe ich mich auch an Forschungsvorhaben beteiligt und einige Arbeiten mit verschiedenen italienischen Teams veröffentlicht. Schließlich kamen Kongresse und Postgraduiertenkurse im Ausland hinzu.

Michael Biberschick: Warum haben Sie sich entschieden, Osteopath zu werden? Was ist für Sie das Besondere an der Osteopathie?

Paolo Tozzi: Nach meinem Abschluss in Physiotherapie stellte ich fest, dass die Ausbildung nicht meinen Erwartungen entsprach. Ich fühlte mich nicht in der Lage, meine Patienten erfolgreich zu behandeln und zu verstehen, was vor sich ging, um ihnen tatsächlich zu helfen. Also dachte ich: Entweder gebe ich weiter vor, als ob ich etwas wüsste, oder beginne wirklich zu lernen, was im menschlichen Körper vor sich geht. Ich habe während meiner Physiotherapieausbildung immer nach etwas gesucht, was mich weiterführt und zu mir passt. Im Internet habe ich dann die Osteopathieausbildung gefunden und mir die beste Schule ausgesucht. Das ist Jahre her. Die ESO war damals eine der führenden Ausbildungsstätten in Europa. Also habe ich mir gesagt: Okay, da gehe ich hin.

Was ist das Besondere an der Osteopathie? Nun, ich wusste damals nicht, dass sie etwas Besonderes ist. Ich hatte einfach das Gefühl, dass sie das war, wonach ich gesucht hatte. Das hat sich dann an der ESO bestätigt. Mich hat an der Osteopathie fasziniert, dass es sich um eine Methode der Körperarbeit handelt, die wirklich sieht und versteht, was vor sich geht. Das war für mich von Anfang an das Beeindruckende an der Osteopathie.

Es war ein langer Weg, und man wächst Schritt für Schritt: Es ist nicht nur ein berufliches, sondern auch ein inneres geistiges Wachstum. Das innere Wachstum vollzieht sich eher als Ablösungsprozess, es ist weniger ein Aufbauprozess. Denn man lässt Vorurteile fallen und wirft alte Konzepte über Bord. Man verändert seine Vorstellungen von sich selbst und davon, was man als Praktiker tun kann. Tatsächlich ist die Entwicklung eher von dieser Art, als dass man etwas aufbaut. Man lässt Dinge gehen, die einen einschränken. Das ist jedenfalls meine Erfahrung.

Michael Biberschick: Haben Sie in Ihrer Praxis irgendwelche Spezialgebiete?

Paolo Tozzi: Ich behandle eigentlich alles und jeden, Neugeborene, Kleinkinder, Erwachsene, Sportler, Schwangere, ältere Menschen, postoperative und posttraumatische Beschwerden, akute und chronische Erkrankungen. Ich verfüge auch über langjährige Erfahrungen in der osteopathischen Behandlung von Tieren. Nachdem ich in England eine Ausbildung in Veterinärosteopathie absolviert habe, habe ich die erste Schule für Veterinärosteopathie in Italien gegründet und parallel auch Erfahrungen mit Tieren gesammelt, mit anderen anatomischen Gegebenheiten als beim Menschen. Das eröffnet ein ganz neues Verständnis dafür, wie Osteopathie bei verschiedenen Spezies wirksam sein kann. Die Prinzipien bleiben dieselben, aber die Anwendung ist gewiss anders.

Michael Biberschick: Sie haben ein Buchkapitel über das respiratorisch-zirkulatorische Modell der Osteopathie geschrieben. Warum sind Modelle in der Osteopathie wichtig?

Paolo Tozzi: Zunächst einmal handelt es sich nur um konzeptionelle Modelle. Sie zielen nicht darauf ab, die ganzheitliche Betrachtungsweise der Osteopathie in irgendeiner Weise aufzuspalten, sondern sollen lediglich Hilfen zur Unterstützung unserer Arbeit liefern. Die Modelle sind deshalb wichtig, weil sie das homöostatische Potenzial des jeweiligen Menschen im Auge haben und nicht die Dysfunktionen, seien sie nun mechanischer, viszeraler oder psychologischer Natur. Im Fokus steht die Fähigkeit, dem Stress in unserem Leben, den inneren und äußeren Stressoren, zu begegnen. Es geht also tatsächlich um Anpassungsfähigkeit und das bestehende Level an Gesundheit. Und die Modelle geben Struktur-Funktions-Beziehungen wieder, die beschreiben, wie wir die 5 Kräfte der Anpassung an das Leben – biomechanisch, neurologisch, respiratorisch-zirkulatorisch, metabolisch und psychosozial – zum Ausdruck bringen. Es handelt sich also um die Art und Weise, wie sich Gesundheit in Form von Anpassung ausdrückt.

Modelle sind nur ein Weg, um das Potenzial einer Person über die Grenzen der Dysfunktion hinaus zu erschließen. Hilfreiche Modelle tragen dazu bei, die Fähigkeit des Menschen, mit dem Leben zu fließen, sich an alles anzupassen, was kommt, in allen Dimensionen zu verbessern – mechanisch, fluidisch, chemisch und auch psychodynamisch. Sie können dem Osteopathen helfen, seine klinische Praxis besser mit den osteopathischen Prinzipien zu verbinden, indem sie auf die Person und nicht auf die Dysfunktion abzielen. Indem wir den homöostatischen Kontext in den Blick nehmen, in dem die Dysfunktion auftreten kann oder auch nicht, machen wir uns frei vom Untersuchen und Bearbeiten der Dysfunktion. Wir können uns nun darauf konzentrieren, was sich rund um die Dysfunktion abspielt, auf das, was den Heilungsmechanismus in der Person unterstützt, die diese 5 Kräfte zum Ausdruck bringt.

Ein Modell darf unsere Praxis nicht einschränken, und wir dürfen nicht einfach ein Modell ans andere hängen. Vielmehr müssen diese 5 Modelle in allem, was wir tun, miteinander verschmelzen, denn alles, was wir tun, hat eine Wirkung auf alle 5 Kräfte. Aber wir können je nach konstitutioneller Veranlagung der Person, je nach klinischem Bild, je nach den Ergebnissen der Tests und Untersuchungen Schwerpunkte setzen. Wir können uns schwerpunktmäßig auf eine oder auch mehrere dieser 5 Kräfte konzentrieren. Deshalb ist das für mich so wichtig.

Michael Biberschick: Danke für diese Erläuterungen. Wie ist die aktuelle Situation der Osteopathie in Italien?

Paolo Tozzi: Im Moment stehen wir vor einem Wandel, denn kürzlich, vor einer Woche erst, gab es eine Gesetzesverordnung, die das Programm für die künftige Osteopathieausbildung festlegt; diese wird vermutlich von den Universitäten übernommen. Wir haben tatsächlich vor etwa 2 Jahren die Anerkennung als Gesundheitsberuf erhalten. Nun beginnt der Regulierungsprozess und diese neue Verordnung ist der 1. Schritt auf diesem Weg. Darin wird festgelegt, dass die Ausbildung 3 Jahre dauert und die Osteopathie politisch und juristisch den Bereich der Präventivmedizin abdeckt. Wir werden also an präventiven Zielsetzungen arbeiten – und zwar nur auf der Ebene des Bewegungsapparats – ohne viszerale Techniken. Wir werden keine Pathologien behandeln, sondern das Auftreten von Pathologien verhindern, zumindest beim Menschen.

Meines Erachtens ist das eine Art politischer und gesetzgeberischer Kompromiss. Auch wenn jeder Osteopath in der klinischen Praxis das tun wird, was zu tun ist, kümmern wir uns auf dem Papier nur um die Prävention im Bereich des Bewegungsapparats, ohne innere Techniken. Das hat für ziemliche Kontroversen gesorgt. Denn das entspricht nicht der Osteopathie, das ist nicht wirklich das, was wir tun, denn es handelt sich nicht nur um Prävention. Aber wir befinden uns in einem schwierigen politischen Umfeld und in Konkurrenz zu Ärzten, Krankenschwestern, Physiotherapeuten und sonstigen Gesundheitsberufen. Alle müssen also in diesem Umfeld eine eigene offizielle Position haben. Und man hielt es für eine gute Idee, der Osteopathie die Rolle der Prävention zuzuweisen. Warum nicht? Es ist ein Kompromiss.

Michael Biberschick: Wenn es nach Ihnen ginge, würden Sie etwas an der osteopathischen Ausbildung oder Praxis ändern?

Paolo Tozzi: Ich würde dafür sorgen, dass die Studierenden ein breites Spektrum an Werkzeugen zur Verfügung haben, von bioelektrischer bis hin zu struktureller Arbeit. Also das gesamte Spektrum osteopathischer Interventionen. Das ist die eine Sache, und die andere ist, ihnen bewusst zu machen, dass sie ihre Praxis nicht darauf beschränken dürfen, bei Menschen nur die Dysfunktionen zu identifizieren und zu behandeln, denn das ist, wie ich eben ausgeführt habe, nur ein Teil unserer Arbeit, aber nicht das Grundsätzliche. Zudem sollte in der Ausbildung ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Theorie, Praxis und klinischer Beobachtung bestehen. Es sollte angemessenes Wissen vermittelt werden über die aktuell verfügbaren Erkenntnisse zu dem, was wir tun, damit die Studierenden die Mechanismen verstehen, die bei unseren Behandlungen eine Rolle spielen könnten. Das umfasst auch den Beziehungsaspekt, also die Kommunikation mit den Patienten, die Information, die Sprache, die Körpersprache, die man dabei einsetzt, also auch Teile des sozialen Konzepts.

Michael Biberschick: Ich habe keine weiteren Fragen. Möchten Sie von Ihrer Seite aus noch etwas hinzufügen?

Paolo Tozzi: Ja, Folgendes: Meines Erachtens ist die osteopathische Welt, ganz allgemein gesprochen, von einem großen Ego-Syndrom betroffen, das ich schwer erträglich finde. Ich denke, wir sollten mehr Demut lernen oder uns zumindest ein bisschen mehr Bescheidenheit zulegen. Denn wenn man eine erste Ahnung davon bekommt, was im Körper vor sich geht, weiß man, dass wir im Grunde gar nichts wissen. Es ist ein ganzes Universum von Mechanismen und es ist äußerst schwierig, ihr multidimensionales Zusammenspiel zu verstehen. Das Ganze ist einfach größer als das, was wir mit unserem Verstand erfassen können. Wir haben einzelne Modelle oder Schlüssel für den Zugang zu dieser komplexen Realität, doch alles, was wir verwenden, ist nur ein beschränktes Abbild der Wirklichkeit. Es ist immer nur eine begrenzte Perspektive. Deshalb ist es wichtig, über so viele Perspektiven wie möglich zu verfügen. Dann sieht man gleichzeitig das Potenzial hinter jeder dieser Perspektiven, aber auch ihre Grenzen. Und letzten Endes glaube ich nicht, dass wir das Körpergeschehen jemals vollständig verstehen können. Wir haben nur eine ungefähre Vorstellung davon, was möglicherweise geschieht, und zum Teil basiert das auf klinischen Erfahrungen. Daher glaube ich, dass es gut wäre, wenn die osteopathische Welt zu einer gewissen Bescheidenheit zurückfindet und ihre Grenzen erkennt. Wir sollten das Potenzial unserer Arbeit schätzen, aber auch anerkennen, welche Grenzen sie im Grunde genommen hat.

Das Gespräch führte Michael Biberschick.



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Article published online:
16 September 2024

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