Laryngorhinootologie 2025; 104(05): 282-284
DOI: 10.1055/a-2523-1035
Referiert und Diskutiert

Kommentar zu „Stressbedingte Erkrankungen nach Tonsillektomie oder Adenotomie“

Contributor(s):
Jochen Windfuhr

*Der klinisch Erfahrene wundert sich über die ihm möglicherweise entgangene Beobachtung derartiger Auswirkungen dieses Eingriffs und greift mit Interesse zur Lektüre der Studie von Xue Xiao et al. Hier fallen als erstes das retrospektive Studiendesign, die extrem hohe Zahl eingeschlossener Patienten (3811283) und der lange Untersuchungszeitraum (35 Jahre) auf. Dies erklärt sich durch die Möglichkeit der Datenaufbereitung durch Zugriff auf Patientenregister, wie sie in Schweden traditionell geführt werden. Das Register Psychiatrie Schweden verknüpft beispielsweise mehrere nationale und lokale Register in Schweden über die eindeutige persönliche Identifikationsnummer der Einwohner Schwedens und ermöglicht so den Zugriff auf anonymisierte Patientendaten. Zur Auswertung gelangten letztlich 83957 Patienten und 51601 Zwillinge, die mit 839570 und 75159 alters- und geschlechtergematchten Patienten verglichen wurden.

Bereits das retrospektive und populationsbasierte Studiendesign limitiert erheblich die Aussagekraft der Studie und gestattet lediglich, statistisch nachweisbare Merkmale zu beschreiben. Die naheliegende Vermutung, dass die in Rede stehenden Eingriffe tatsächlich Ursache der genannten psychischen Erkrankungen waren, lässt sich mit dieser Studie aber nicht belegen. Dazu passt die im Wesentlichen auf Mutmaßungen beruhende inhaltliche Begründung der Autoren für die Zusammenhangsbeobachtung durch „chronische Entzündungen“, ein nicht eindeutig definierter Terminus [Stuck 2008, Windfuhr 2017]. Gegen die Annahme von Entzündungen als Ursache der psychisch auffälligen Symptomatik sprechen aber auch die von Borgström et al. 2017 publizierten Zahlen des National Tonsil Register in Sweden: Tonsillitiden waren hier die überwiegende Operationsindikation erst nach dem 14. Lebensjahr. Die Teilnehmer der vorliegenden Studie von Xiao et al. waren aber zwischen 6,6 und 19,5 Jahre alt (Median 13,3–14,9 Jahre). Es ist also sehr viel wahrscheinlicher, dass die Kinder überwiegend gar nicht wegen chronischer Halsentzündungen, sondern wegen einer oberen Atemwegsobstruktion durch eine Tonsillenhyperplasie operiert worden waren. Inwieweit die von den Autoren ins Feld geführte Entfernung der „first line defense“ die Zusammenhangsbeobachtung erklären soll, bleibt offen. Gegen die Annahme, dass bei jeder Tonsillektomie (TE) immer von regelrechter Amputation eines Abwehrorgans auszugehen ist, sprechen ebenfalls Zahlen aus Schweden: 0,6% aller „Tonsillektomierten“ mussten nachoperiert werden, um verbliebenes Tonsillengewebe vollständig zu entfernen [Odhagen 2016]. Der Anteil an asymptomatisch „Tonsillektomierten“ mit belassenem Tonsillenrestgewebe lässt sich aber nicht beziffern. Dass nach Adenotomie (AT)vermeintlich „chronisch entzündetes“ Tonsillengewebe per se vollständig verbleibt, wurde ebenfalls nicht diskutiert, die Zusammenstellung der Studiengruppe ist inhaltlich auch unter diesem Aspekt nicht nachvollziehbar.

Es gibt aber auch weitere diskussionswürdige Punkte, wie der 35-jährige Untersuchungszeitraum (1981–2016). Zumindest für die Häufigkeit der TE kann als gesichert gelten, dass die Fallzahl in Schweden seit 2006 rapide abgenommen hat zugunsten einer Eingriffsart, die leider gar nicht Gegenstand der Studie war, nämlich die Tonsillotomie (TT), bei der im Übrigen gezielt Tonsillengewebe belassen wird. Borgström et al. haben die Fallzahlen 2017 publiziert, Datengrundlage war das National Tonsil Register in Sweden. Auch für Deutschland lässt sich dieser Wandel sehr gut belegen [Windfuhr 2016, 2020]. Früher als obsolet betrachtet, ist hier die TT seit 2007 mit einem eigenen OPS-Code (5–218.5) und seit 2020 mit einer eigenen EBM-Abrechnungsziffer für ambulante Operationen versehen.

Es darf für den 35-jährigen Studienzeitraum angenommen werden, dass sich die Qualität der Diagnosestellung durch Faktoren wie Facharztdichte, Leitlinienpublikationen, Fortbildungsangebote und strukturierte Facharztausbildung geändert hat. In Schweden geht man jedenfalls von einer zunehmenden Bedeutung der Hausärzte auch für die Diagnose und Therapie von Stress- und Traumafolgestörungen aus [Sundquist 2017]. In Deutschalnd hat nach den Daten der öffentlich zugänglichen Gesundheitsberichterstattung des Bundes aber beispielsweise die Facharztdichte auf dem Gebiet der Neurologie von 1142 im Jahr 1991 auf 10643 im Jahr 2023 zugenommen. Zwischen 2005 und 2019 nahm die Zahl der TE und Adenotonsillektomie (ATE) in Deutschland kontinuierlich ab. Die Zahl an stationär behandlungsbedürftigen Patienten mit Stress- und Traumafolgestörungen geht seit 2017 zurück, und dies vor allem in der Gruppe der 15–45-Jährigen, die nicht Gegenstand der vorliegenden Studie waren.

Die Morbidität nach AT, vor allem aber TE und ATE, definiert sich durch Schmerzen und Blutungskomplikationen. Insofern erscheint es nachvollziehbar, dass die Operierten kurzfristig auf den mehr oder weniger schmerzhaften Eingriff reagieren, möglicherweise auch mit depressiven Zeichen. Den vorübergehenden Charakter haben Kim et al. beschrieben und 3 Wochen nach dem Eingriff bei den untersuchten 43 Kindern im Alter zwischen 3 und 11 Jahren nicht mehr nachgewiesen. Auch in der Studiengruppe von Papakostas et al. wurden 89 Fragebögen von 159 Operierten beantwortet. Depressive Symptome wurden initial von 15 angegeben (17%), die nach 3 Monaten nicht mehr empfunden wurden.

Patienten mit präoperativ bereits existenter F43-Symptomatik der ICD-10 Klassifikation wurden in der vorliegenden Studie ausgeschlossen, dabei konnten Yang et al. 2024 eine nennenswerte Prävalenz in allen Altersgruppen in Schweden nachweisen. Dazu passen Daten aus der 2009 von Ericsson et al. publizierten Studie aus Schweden. Hier wurden mittels Fragebogen bei 67 Kindern im Alter zwischen 4,5 und 5,5 Jahren sowohl vor TT wie auch TE präoperative Scores von Angststörungen und depressiven Symptome ermittelt, die 6 Monate postoperativ geringer waren (signifikant reduziert jedoch nur in der TE-Gruppe).

Zahlenstarke Studien konnten belegen, dass sich sowohl Schmerzintensität wie auch Nachblutungsraten von der Operationstechnik der TE/ATE beeinflussen lassen. Außerdem ließ sich nachweisen, dass sich Blutungskomplikationen nach ATE und TE in Abhängigkeit von Alter und Geschlecht entwickeln [Windfuhr 2019]. Nach TT ist prinzipiell von einer geringeren postoperativen Morbidität auszugehen. All diese Informationen kann die vorliegende Studie wegen der populationsbasierten Datenbasis nicht zur Verfügung stellen, was auch Angaben zur postoperativen Betreuung, zur Medikation und zu Anästhesiekonzepten einschließt. Die Autorengruppe verweist auf eine vorangegangene Studie, in der statistische Zusammenhänge zwischen akuten Schleimhautentzündungen und psychiatrischen Erkrankungen/Suizidalität nachgewiesen wurden [Isung 2019]. Interessant ist, dass hier die TE als Synonym für Entzündungen verwendet wurde, dem Kollektiv wurden dann noch Patienten mit „akuter Appendizitis“ hinzugefügt. Die Studie weist ein analoges Design und alle damit verbundenen Nachteile auf und zieht Patienten aus dem Zeitraum zwischen 1973 und 2013 heran. Insofern gelten die geschilderten Bedenken auch für dieses statistische Konstrukt.

Nicht alles, was sich statistisch belegen lässt, muss tatsächlich Konsequenzen für den (klinischen) Alltag haben, wie dies von Payne et al. (2008) sehr überzeugend illustriert wurde.

Literatur beim Verfasser



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Article published online:
05 May 2025

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