Z Sex Forsch 2025; 38(02): 111-112
DOI: 10.1055/a-2598-4273
Bericht

Where passion meets science, our hearts converge…”: Tagungsbericht zur 50. Konferenz der International Academy of Sex Research in Berlin

Jeanne C. Desbuleux
1   Institut für Sexualforschung, Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
,
Tanja Oschatz
2   Abteilung Sozial- und Rechtspsychologie, Johannes Gutenberg- Universität Mainz
› Author Affiliations

…Berlin 2024, the place to be,
At the Academy, we’re setting minds free.

Mit diesem durch Tools der Künstlichen Intelligenz (KI) generierten Song eröffnete Nicola Döring (Technische Universität Ilmenau, Deutschland) als Key Note Sprecherin ihren Vortrag und damit auch die 50. Konferenz der International Academy of Sex Research (IASR; https://www.iasrsite.org/). Ihr Vortrag setzte einen wichtigen Akzent auf eines der diesjährigen Hauptthemen der Konferenz: Sexualität und KI. Döring begann mit der Vorstellung eines 5-Jahres-Forschungsreviews zum Einfluss von KI auf Sexualität und führte das Publikum dabei durch vier große Themenbereiche: (1) sexuelle Bildung, (2) sexuelle Beratung und Therapie, (3) sexuelle Beziehungen und (4) Pornografie. Zu jedem einzelnen dieser Themen diskutierte sie die Potenziale und Limitationen, die AI bieten kann. Im Bereich Pornografie erläuterte sie beispielsweise, dass KI-generiertes explizites Bildmaterial tendenziell Stereotypen wiederholt, es sei denn, Nutzer*innen fordern explizit andere Inhalte an. Auch erwähnte sie Forschung, die zeigt, dass bspw. ChatGPT bereits relativ präzise Antworten auf Fragen der sexuellen Bildung liefern kann. Dies sollte uns alle ermutigen, die Möglichkeiten von KI als Ergänzung zum menschlichen Handeln zu betrachten und bei Forschung diesen Aspekt in den Fokus zu rücken. Döring appellierte an uns Sexualwissenschaftler*innen, den Diskurs über Sexualität und KI aktiv mitzugestalten, um zu verhindern, dass andere Disziplinen das Thema allein dominieren.

Anlässlich des 50. Jubiläums fand anschließend ein Sex History Roundtable statt, bei dem es einen kurzen Input über die Geschichte der Sexualforschung gab und anschließend einige ehemalige Präsident*innen der Academy auf der Bühne zusammenkamen und in lockerer Atmosphäre über die Entwicklung der IASR sprachen. Dabei wurden spannende und amüsante persönliche Anekdoten geteilt. Wussten Sie zum Beispiel, dass vor 30 Jahren die Zeitschrift „Archives of Sexual Behavior“ in Bibliotheken am Tresen persönlich erbeten werden musste, weil das öffentliche Auslegen als zu gefährlich galt? Für uns „Jüngere“ war dies nicht nur unterhaltsam, sondern offenbarte auch den harten Weg, den unsere Vorreiter*innen gehen mussten, sodass wir heute Teil einer Fachgesellschaft sein können, die laut und mutig über Sexualität sprechen kann. Als zwei Sexualforscherinnen aus Deutschland fiel uns allerdings auf, dass, obwohl in Berlin zu Gast, die Geschichte der Sexualforschung in ihren Ursprüngen, namentlich die Geschichte des Institutes von Magnus Hirschfeld, bedauerlicherweise keine Erwähnung fand. Dieser bedeutsame Abschnitt unserer Geschichte, der unserer Meinung nach einen würdigen Platz in einer Jubiläumsfeier verdient, wurde eindrucksvoll für jene aufgearbeitet, die einen der begehrten Plätze bei der Stadtführung Berlin‘s History of Sex – Augmented Reality Guided Tour (https://berlinguide.de/about-us/) ergattern konnten. Dieses herausragende Event, organisiert von den engagierten IASR Student Representatives, bot eine emotionale Reise voller Lachen und Tränen. Wir empfehlen Ihnen diese Tour von ganzem Herzen.

Über die Konferenz verteilt gab es mehrere Blöcke mit Kurzvorträgen in Form von DataBlitzes und Brief Communications. Aufgrund der Vielzahl von Themen, die in den 5–10-minütigen Kurzvorträgen behandelt wurden, möchten wir hier nur einige Beispiele nennen, um Ihnen einen Eindruck zu vermitteln, mit welcher Bandbreite von Themen die Sexualforscher*innen sich aktuell beschäftigen: Kelly Davis (Arizona State University, USA) sprach über den Widerstand gegen die Nutzung von Kondomen. Ashley Dhillon behandelte das Thema „Explicit and implicit gender identity in Thai cisgender and gender-diverse children“ und unterstrich die Relevanz, Sexualforschung immer kulturspezifisch zu denken. Simon Dubé (Kinsey Institute, USA) stellte die Frage, ob wir uns mittels der 36 questions to fall in love auch in ChatGPT verlieben könnten. Noor Gieles (Amsterdam UMC, Niederlande) ging der Frage nach sexualitätsbezogenen Betreuungsbedürfnissen von Transgender-Klient*innen in geschlechtsangleichender medizinischer Betreuung nach und resümierte, dass die Einbeziehung von Erfahrungen anderer Betroffener eine wichtige Rolle spielen sollte. Leonor de Oliveira (University of Minnesota, USA) führte das Konzept der sexuellen Langeweile als mediierender Faktor zwischen sexuellem Verlangen und sexueller Zufriedenheit ein. Meredith Chivers (Queen’s University, Kanada) stellte bislang unveröffentlichte Daten vor, die die Veränderung der Klitorisstruktur während sexueller Erregung mittels bildgebender Verfahren zeigte. Sowohl für sie, als auch für uns als Zuhörerinnen, war es faszinierend, diese Bilder zu sehen und gleichzeitig erschreckend, wie revolutionär diese Daten im Jahr 2024 immer noch sind.

Mit insgesamt fünf Poster Sessions räumte die diesjährige Tagung auch jüngeren Sexualforscher*innen genügend Zeit ein, um Ihre Themen zu präsentieren. Begleitet von einem stets tollen Buffet wurde sich viel ausgetauscht, gelacht und diskutiert.

Die insgesamt sieben Symposien behandelten diverse Themen: Das erste Symposium der Konferenz wurde dem Thema des sexuellen Würge- und Strangulationsverhaltens gewidmet. Debby Herbenick (Indiana University, USA) präsentierte Ergebnisse, wonach diese Verhaltensweisen besonders bei jungen Menschen weit verbreitet sind. Sie kritisierte, dass zwar viele Personen Konsens in diesem Kontext als wichtig erachten, dieser jedoch in der Praxis oft noch unzureichend umgesetzt wird. Anknüpfend daran, konzentrierten sich die folgenden Forscherinnen auf die Überschneidungen von rough sex bzw. hartem Sex und ungewollten sexuellen Erfahrungen. Natasha Mulvihill (University of Bristol, UK) präsentierte Forschungsergebnisse, wonach fast die Hälfte der Frauen in ihrer Stichprobe bereits ungewollten harten Sex erlebt hat. Besonders schwierig und komplex, auch für die Forschung, sind die verschwimmenden Grenzen zwischen hartem Sex und übergriffigem oder gewalttätigem Verhalten. Demnach fühlen sich Betroffene häufig selbst verantwortlich und erleben ähnliche Folgesymptome wie Opfer von Vergewaltigungen. Abgerundet wurde das Symposium von Nicola Gavey (University of Auckland, Neuseeland) die noch mal den Trend der Normalisierung von hartem Sex hervorhob. Sie warnte, dass dieser Trend die Gefahr birgt, dass Konsens als gegeben angenommen wird, obwohl er in der Praxis oft nicht klar und eindeutig vorhanden ist.

Das Symposium zum Wohlbefinden von trans* und nicht-binären Menschen wurde von Will Beischel (Loyola University Chicago, USA) eröffnet, der das Konzept der gender euphoria einführte. Dieses Konzept beschreibt die positiven geschlechtlichen Identitätserfahrungen, die trans*/nicht-binäre Menschen erleben, wenn sie sich in ihrer Geschlechtsidentität authentisch ausdrücken können. Qualitative Beispiele für gender euphoria wurden anschließend von Daniel Griffiths (University of Southampton, UK) präsentiert. So kann beispielsweise ein Gefühl intensiver Freude entstehen, wenn trans* Personen nach geschlechtsangleichenden Operationen zum ersten Mal neue Körperempfindungen machen, wie das Feuchtwerden oder das Berührtwerden an der neuen Brust. Die Forscher*innen ermutigen dazu, den Fokus von einer rein defizitorientierten Forschung zu trans* Personen hin zu einer Perspektive zu verschieben, die auch die positiven geschlechtlichen Erfahrungen berücksichtigt. Das Symposium wurde von Fraedan Mastrantonio (University of Southampton, UK) abgerundet, die die Bedeutung einer intersektionalen Perspektive in der Erforschung von Geschlechtsidentität betonte, da Non-Binarität beispielsweise relativ stark mit Autismus korreliert.

In einem methodischen Symposium wurden einige Standardmessinstrumente der sexuellen Funktionsfähigkeit kritisch untersucht. Die Präsentierenden wiesen auf Einschränkungen bei den uns aktuell zur Verfügung stehenden Skalen hin. Beispielsweise präsentierte Lauren Walker (University of Calgary, Kanada) ihre Forschung zur mangelnden Nutzbarkeit von Messinstrumenten der sexuellen Funktionsfähigkeit für trans* Personen. Hauptfazit des Symposiums war, dass es manchmal nicht ausreicht, Formulierungen inklusiver zu gestalten; vielmehr müssen Messinstrumente gegebenenfalls auch inhaltlich angepasst und erweitert werden, um die Erfahrungen und Erlebnisse spezifischer Gruppen angemessen abzubilden.

Im letzten Symposium und damit zum Abschluss der Woche ging es um traumatisierte Sexualität und wie Menschen, die Traumatisierungen erfahren haben, wieder zu sexuellem Wohlbefinden finden können. Ateret Gewirtz-Meydan (University of Haifa, Israel) wies auf die Besonderheiten bei der Therapie von sogenannten Survivors sexueller Traumata hin und appellierte an Therapeut*innen, genauer hinzusehen. Sie betonte, dass ein reguläres bis hohes Level an Sexualität nicht unbedingt auf eine gesunde Sexualität hinweist, sondern Ausdruck des Versuchs sein kann, durch Sexualität Kontrolle zu erlangen. Sarah Biedermann (Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Deutschland) stellte als letzte Sprecherin das Gruppentherapieprogramm TRUST vor, das Menschen mit sexuellen Traumata durch verschiedene Stufen wie sexuelle Bildung und die Stärkung persönlicher Grenzen hilft, eine selbstbestimmte Sexualität zu leben.

Weitere Symposien behandelten therapeutische Wege bei der Behandlung von Personen, die sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen, sexuelle Bildung im globalen Süden, diverse Prädiktoren bei der Geschlechtsdysphorie bzw. der Geschlechtsangleichung und den therapeutischen Einsatz von KI bei intimen Themen.

Zum Abschluss bleibt uns zu sagen, dass die diesjährige Tagung ganz im Zeichen der Zukunft der Sexualforschung stand. Dabei wurden auch die beunruhigenden politischen Entwicklungen thematisiert, die uns alle betreffen. Unsere Forschung, insbesondere zu Minderheiten und politisch aufgeladenen Themen, ist von Finanzierung abhängig und kann politischen Ressentiments ausgesetzt sein. Lisa Diamond (University of Utah, USA), die aktuelle Präsidentin der IASR, sprach in ihrer bewegenden Rede vor allem über die politischen Entwicklungen in den USA und die potenziellen Konsequenzen für die Sexualforschung und die sexuelle Bildung nach einem möglichen Sieg Donald Trumps in der diesjährigen Präsidentschaftswahl. Sie ermutigte uns, als Wissenschaftsgemeinschaft zusammenzustehen, auch oder gerade in schwierigen politischen Zeiten weiterhin engagiert Sexualforschung zu betreiben und dabei wissenschaftliche Präzision und Transparenz zu wahren. „Gute Forschung ist Aktivismus!“, rief sie dem Publikum zu. Wir wurden zudem daran erinnert, dass wir als Forschungsgemeinschaft tolerant gegenüber unserer eigenen Unsicherheit sein müssen, Unbehagen aushalten und manchmal einfach sagen sollten: „Ich weiß es nicht”.



Publication History

Article published online:
11 June 2025

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