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DOI: 10.1055/a-2646-3603
Liebe Leserinnen, liebe Leser, …
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Von Fakten und Fakes
Zugang und Umgang mit Informationen im öffentlichen Raum sind derzeit ein Top-Thema. Einige Publikationen der letzten Monate, die ich hier kurz vorstellen möchte, lassen aber auch auf erhebliche, augenblicklich noch wenig öffentlich diskutierte Veränderungen in der medizinischen Versorgung, Wissenschaft und Forschung schließen. Auch der Bereich der Phytotherapie ist davon betroffen – wir werden uns diesen Herausforderungen stellen müssen.
Unzureichend informierte Patientinnen und Patienten sind bekanntlich nicht zur gezielten Selbstfürsorge befähigt. In einem aktuellen systematischen Review mit Metaanalyse zum Thema „gewollte Informationsvermeidung über mögliche schwere Erkrankungen“ wurden Daten aus 92 Studien mit 564 497 Teilnehmenden aus 25 Ländern inklusive Deutschland analysiert [1]. Eine derartige Prävalenzschätzung ist für die Ausgestaltung von Gesundheitssystemen ganz entscheidend, z.B. in Bezug auf aktuelle Bestrebungen, Menschen mehr Verantwortung für ihre eigene Gesundheit zu übertragen, auch um die derzeit ausufernden Kosten in der medizinischen Versorgung zu dämpfen. Unter Informationsvermeidung versteht man jede Form von Verhalten, die darauf abzielt, die Beschaffung verfügbarer, aber potenziell unerwünschter Informationen zu verhindern oder zu verzögern. So zögern die Betroffenen z.B. Arztbesuche hinaus oder nehmen solche nicht wahr, ignorieren Aufklärungsmaterialien oder lassen medizinische Tests nicht durchführen bzw. nehmen deren Ergebnisse nicht zur Kenntnis.
Das Review ergab eine hohe Vermeidung von medizinischen Informationen insbesondere bei unheilbaren neurodegenerativen Krankheiten (Morbus Alzheimer: 41% der Teilnehmenden, Chorea Huntington: 40%), bei schweren behandelbaren Krankheiten wie HIV-Infektion (32%) bzw. Krebs (29%), aber auch bei Diabetes mellitus (24%). Die stärksten Prädiktoren für ein Vermeidungsverhalten waren eine kognitive Überforderung, ein gering ausgeprägtes Gefühl der Selbstwirksamkeit, die Furcht vor Stigmatisierung (z.B. durch einen positiven HIV-Test) und mangelndes Vertrauen in das medizinische System. Das Verhalten der Betroffenen ist somit nicht irrational, sondern emotional und kognitiv getrieben, entsprechende Gegenmaßnahmen müssen daher gezielt auf diese Prädiktoren reagieren [1].
Man könnte vermuten, dass hier die parallel zur demokratischen Entwicklung im Laufe der letzten 150 Jahre immer raffinierter gewordenen psychologischen Überzeugungsstrategien hilfreich sein könnten, die auch bereits mittels künstlicher Intelligenz (KI) seit einigen Jahren umfangreich angewendet werden. Hier soll eine aktuelle Studie bei fast 77 000 britischen Teilnehmenden erwähnt werden, in der man den Erfolg von verschiedenen psychologischen Strategien auf politische Überzeugungen testete, darunter „Moral Reframing“ (hierbei handelt es sich um eine kommunikative Strategie, bei der versucht wird, Personen durch das Anpassen von Botschaften an ihre moralischen Werte von einer Sache zu überzeugen), „Deep Canvassing“ (hier werden zunächst umfassend die Ansichten der NutzerInnen erfragt, bevor Argumente präsentiert werden) und „Storytelling“ (Geschichten erzählen, die Emotionen wecken und Informationen vermitteln). Überraschenderweise war aber eine ganz andere Strategie der klare Gewinner: KI-Systeme, die den Teilnehmenden im Gespräch sehr viele Fakten und Belege zu einem bestimmten Thema präsentierten, waren um 27% überzeugender als das KI-System, aus dem sie entwickelt worden waren (der sogenannte Basis-Prompt). Die psychologischen Taktiken waren im Vergleich dazu kaum wirksam. Das Problem dabei war, dass eine optimierte KI-Konfiguration zwar um 69,1% erfolgreicher war als der Durchschnitt der Konfigurationen, allerdings waren hier von den 22,1 faktischen Behauptungen pro Gespräch 29,7% ungenau. Anders ausgedrückt heißt das, dass Methoden, die eine KI überzeugender machen, systematisch ihre faktische Genauigkeit senken: Die überzeugendsten Modelle waren oft die ungenauesten. Dies birgt erhebliche Risiken für den öffentlichen Diskurs und für demokratische Gesellschaften, aber auch für den Gesundheitsbereich (man denke hier nur einmal an die nächste Pandemie). Hinzu kommt, dass die Überzeugungskraft zukünftiger KI-Systeme vor allem von Post-Training- und Prompting-Methoden abhängig sein dürfte, was kleinere AkteurInnen in diesem Bereich ermächtigt, durch Post-Training-Verfahren hochüberzeugende KI zu entwickeln und dabei die Sicherheitsvorkehrungen großer Anbieter zu umgehen [2].
Eine bisher zu wenig wahrgenommene Entwicklung im Bereich der medizinischen Informationen ist auch für ÄrztInnen und anderes medizinisches Fachpersonal, insbesondere im Bereich Wissenschaft und Forschung, bereits zu einer großen Herausforderung geworden. Eine aktuelle Studie hat aufgedeckt, dass der Betrug bei wissenschaftlichen Veröffentlichungen inzwischen industrielle Ausmaße erreicht [3]. Die Akteure sind organisierte Verbände aus Verkäufern fertiger Fachartikel, Brokern, Editoren und Pseudo-Fachjournalen. Für diese Studie durchsuchte man große Publikationsdatenbanken nach mehrfach in verschiedenen Artikeln auftauchenden Diagrammen und Bildern sowie nach Forschungsartikeln, die von einem Fachjournal zurückgezogen worden waren, weil die Inhalte massiv fehlerhaft oder schlichtweg gefälscht waren. Zudem wurde nach Raubjournalen gefahndet, die Fachartikel ohne oder mit nur ungenügendem Peer-Review publizieren, sowie nach „Paper Mills“, die massenhaft Fachartikel zu beliebigen Themen in niedriger Qualität produzieren oder sogar fälschen und an interessierte Forschende verkaufen. Bei Letzteren spielen die VermittlerInnen (Broker) eine Schlüsselrolle. Sie verbinden die verschiedenen AkteurInnen miteinander, d.h. diejenigen, die gefälschte Fachartikel schreiben, WissenschaftlerInnen, die dafür zahlen, dass sie als deren Autoren genannt werden (weil sie unter Publikationsdruck stehen), und Pseudo-Fachjournale sowie Editoren und Peer-Reviewer, die zusammenarbeiten, um gefälschte Fachartikel an der normalen Peer-Review-Kontrolle vorbei zu schleusen. Viele dieser Publikationen fliegen im Nachhinein aber auf und müssen zurückgezogen werden, enttarnte Pseudo-Journale werden aus offiziellen Datenbanken eliminiert. Ein weiterer Trick ist die Übernahme von Namen und Website von legitimen Fachzeitschriften, die eingestellt wurden, durch Betreiber von Paper Mills.
Das Ausmaß des organisierten Wissenschaftsbetrugs wächst nach dieser Publikation rasant: Die Zahl der zurückgezogenen Fachpublikationen hat sich alle 3,3 Jahre verdoppelt, die Menge an Fachartikeln von potenziellen Paper Mills verdoppelt sich sogar alle 1,6 Jahre (und das sind nur die Publikationen, die aufgeflogen sind oder zumindest starken Verdacht erweckt haben). Die Zahl der betrügerischen Publikationen steigt fast zehnmal schneller an als die der wissenschaftlichen Publikationen insgesamt. Offenbar lässt sich also schon jetzt der Betrug kaum eindämmen. Aber durch generative KI-Systeme wird es noch schwieriger werden, echte Fakten von Fälschungen zu unterscheiden – mit denen dann neue KI-Modelle trainiert werden. Hier besteht eine sehr große Gefahr für die zukünftige Wissenschaft, zumal der Reichtum einer Nation eng verknüpft zu sein scheint mit der Menge und Qualität der Forschung, die sie produziert [3].
Beim Studium der Artikel dieser Heftausgabe kann man Hinweise auf die soeben genannten sowie auf weitere Probleme, die eine Besonderheit des Bereichs der Phytotherapie sind, aber auch Lösungsvorschläge entdecken.
Nahrungsergänzungsmittel (NEM) werden im Internet, aber auch in anderen Medien, z.B. den Publikumszeitschriften, massiv beworben. NEM mit pflanzlichen Inhaltsstoffen verdrängen in vielen Bereichen zunehmend die entsprechenden pflanzlichen Arzneimittel. Wie problematisch dies für die Selbstfürsorge sein kann, zeigt ein Artikel zu Passionsblumenkraut, in dem die Qualität von Nahrungsergänzungsmitteln (NEM) mit der von registrierten pflanzlichen Arzneimitteln verglichen wird. Ein erheblicher Anteil der untersuchten und als „Passionsblume“ gekennzeichneten NEM enthält im Gegensatz zu den Arzneimitteln nicht das spezifizierte pflanzliche Material, d.h. es handelt sich um Lebensmittelbetrug oder -fälschung. Hier ist das Grüne Rezept, das inzwischen auch als Grünes E-Rezept zur Verfügung steht, für ÄrztInnen das Instrument für eine sichere Empfehlung u.a. von rezeptfreien Phytopharmaka. Der Wert für die PatientInnen steigt, wenn die Selbstmedikation durch die heilberufliche Beratung in der Apotheke vor Ort optimiert wird oder ihr eine ärztliche Empfehlung vorausgeht; die Bedeutung von Eigenverantwortung wird damit unterstrichen. Der Artikel zum Grünen Rezept enthält zudem etliche aktuelle Daten zum Markt von rezeptfreien Arzneimitteln und Gesundheitsmitteln im Bereich der Apotheke.
Bei der Bewertung von Phytotherapie in medizinischen Leitlinien gibt es etliche Phytotherapie-spezifische Fallstricke, wie z.B. die nahezu regelhaft niedrige Qualität von entsprechenden systematischen Reviews und Metaanalysen infolge der hohen Heterogenität der einbezogenen randomisierten kontrollierten Studien (RCT) oder die oft unbekannte Produktqualität. Der Abschnitt zur Phytotherapie in der aktuellen S3-Leitlinie „Insomnie“ ist für diese Problematik exemplarisch: Er weist in diesen und vielen anderen Punkten erhebliche Schwächen auf, die im entsprechenden Artikel in diesem Heft ausführlich dargestellt werden. Zudem ergeben sich Hinweise auf Fälschungen von Publikationen. Die Nichtempfehlung für Baldrianzubereitungen bei Insomnie ist in dieser Leitlinie mit einer pauschalen Bewertung der RCTs somit mangelhaft begründet. Zudem fällt auf, dass bei der Bewertung von methodisch deutlich schwächeren RCTs (ohne adäquate Placebokontrolle und Verblindung) bei nicht pharmakologischen Maßnahmen viel niedrigere Maßstäbe angelegt werden, die in stark positiven Empfehlungen auch für auf KI basierende Anwendungen resultieren. Der Artikel zeigt abschließend potenzielle Lösungsmöglichkeiten bei Bewertungsproblemen von Phytotherapie in den Leitlinien auf, die der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) nähergebracht werden sollen. Welche Möglichkeiten zur Zusammenarbeit von der Gesellschaft für Phytotherapie mit der AWMF sich ansonsten noch ergeben könnten, zeigt ein weiterer Artikel in diesem Heft.
Schließlich finden Sie in diesem Heft noch ein Arzneipflanzenporträt. Diesmal geht es um den Rundblättrigen Sonnentau (Drosera rotundifolia (L.)), der im Rahmen von Wiedervernässung von Moorlandschaften nachhaltig angebaut werden kann und zukünftig zur Therapie von Erkrankungen der Atemwege eingesetzt werden könnte – ein erfreuliches Resultat aus den Maßnahmen zum Klimaschutz.
KI-Erklärung: Dieser Artikel wurde nicht mit KI generiert (nein, das ist bislang keine verpflichtende Angabe, sondern nur eine Idee von mir, die vielleicht sogar Realität werden könnte).
Mit den besten Wünschen
Karin Kraft
Publication History
Article published online:
20 October 2025
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Georg Thieme Verlag KG
Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany
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Literatur
- 1 Offer K, Oglanova N, Oswald L. et al Prevalence and predictors of medical information avoidance: A systematic review and meta-analysis. Ann Behav Med 2025; 59: kaaf058
- 2 Hackenburg K, Tappin BM, Hewitt L. et al The levers of political persuasion with conversational AI. arXiv:2507.13919 [cs.CL] Zugriff am 10.09.2025 unter
- 3 Richardson RAK, Hong SS, Byrne JA. et al. The entities enabling scientific fraud at scale are large, resilient, and growing rapidly. PNAS 2025; 122: e2420092122