Geburtshilfe Frauenheilkd 2025; 85(11): 1128-1130
DOI: 10.1055/a-2682-7553
GebFra Magazin
Geschichte der Gynäkologie

„In Erinnerung an alte Zeiten“ – über die geburtshilfliche Ausbildung von Werner Forßmann (1904–1979)

Authors

  • Andreas D. Ebert

  • Matthias David

Es war ein Glücksfall, dass das „Praktikantenbuch“ Ende 2007 in einem Kreuzberger Antiquariat erworben werden konnte [1]. Es handelt sich um eine Art 2-bändiges Tagebuch ([Abb. 1]) der Medizinalpraktikanten aus der Berliner Universitäts-Frauenklinik in der Artilleriestraße mit Originalfotos und Autogrammen, Gedichten und selbstgemalten Bildern, die in unikaler Weise den Zeitgeist der 1920er bis 1940er Jahre widerspiegelten [1]. Unter den vielen Autogrammen der teilweise berühmten Oberärzte und der damaligen, (noch) unbekannten Medizinstudenten finden sich u. a. auch 2 Originaleinträge des späteren Medizin-Nobelpreisträgers Werner Forßmann aus den Jahren 1926 und 1959. Dies führte zur Beschäftigung mit der Person Forßmanns und insbesondere mit seiner Autobiografie „Selbstversuch“, in der er ausführlich und sehr lebendig seine Erlebnisse als Praktikant der Berliner Universitäts-Frauenklinik im Wintersemester 1925/26 schilderte und uns damit eine seltene Darstellung der damaligen geburtshilflichen Ausbildung hinterließ [2]:

„… Ich erhielt einen der sehr begehrten Internatsplätze in der geburtshilflichen Poliklinik der Frauenklinik in der Artilleriestraße. Damit war ich in den Genuß einer Studienmöglichkeit gekommen, wie es sie meines Wissens nur in Berlin gab. Hier unterhielten die Universitätsfrauenklinik, die Frauenklinik der Charité und die Privatfrauenklinik von Prof. Strassmann, eine geburtshilfliche Poliklinik, die der Ausbildung von acht Studenten und einigen Volontärärzten diente, die Frauenärzte werden wollten. Die auf drei Monate befristeten Kurse waren so organisiert, dass auf Anforderungen der Hebammen aus der Stadt ein Volontär, also ein approbierter Arzt, und ein Student mit Straßenbahn oder Taxe, je nach der fernmündlich durchgegebenen Dringlichkeitsstufe, in die Wohnung der Gebärenden fuhren. Nach Erhebung der Vorgeschichte und Untersuchung der Patientin rief der Volontär in der Klinik an und berichtete dem Oberarzt Dr. Dunkel den Befund und seinen Behandlungsvorschlag. War das Krankheitsbild nicht eindeutig oder Schwierigkeiten zu erwarten, so kam Dunkel selbst. In den ersten beiden Monaten der Praktikantenkurse leiteten die Volontäre die Geburten, und wir assistierten. Im letzten Monat war es umgekehrt, sofern nicht der Oberarzt entschied, dass die Kreißende in die Klinik gehörte …“

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Abb. 1 Die beiden Bände des „Praktikantenbuches“ (Quelle: medizinhistorische Sammlung und Foto Prof. Ebert).

Die Hauspraktikanten wohnten sehr spartanisch im Souterrain der Klinik unter den Kreißsälen: „Prachtstück unseres Mobiliars war ein geburtshilfliches Phantom, an dem wir jeden Tag anderthalb Stunden von einem der älteren Assistenten der Klinik gebimst wurden …“ erinnerte sich Forßmann [2]. Die Studenten mussten bei ihren geburtshilflichen Außeneinsätzen im Berliner Stadtgebiet die schweren Instrumententaschen tragen, die Instrumente reinigen und sterilisieren und auch die Narkosen durchführen. Benutzt wurde damals die Inhalationsnarkose mit Chloroform, da die Äthernarkose wegen der Explosionsgefahr in den Wohnungen bei Petroleumlampen, Herdfeuer und Kerzen zu gefährlich war [2]. Außerdem führten die Studenten die Geburtsprotokolle, die von den Volontärärzten und dem zuständigen Oberarzt gegengezeichnet wurden. Während Forßmanns Praktikantenzeit war die Universitäts-Frauenklinik in der Artilleriestraße de facto noch führungslos, da nach dem Tode Ernst Bumms (1858–1925) sein Nachfolger Walter Stoeckel (1871–1961) aus Leipzig zwar schon berufen war, aber noch mit den sächsischen und preußischen Ministerien um bessere Konditionen verhandelte. Stoeckel hatte seinen Oberarzt Richard Hornung (1892–1931) bereits nach Berlin geschickt, um den „Einzug des neuen Geistes“ zu organisieren [1]. An der strukturierten Ausbildung der Studenten, Volontäre und Assistenten änderte sich offensichtlich nichts. Im Rahmen der oben geschilderten ambulanten Geburtshilfe lernten die Studenten auch die Situation der Berliner Bevölkerung in all ihren verschiedenen Facetten kennen. Die Armut und das soziale Elend in den Hinterhöfen der Arbeiterviertel gehörten zum Alltag der jungen Geburtshelfer: „… Behausungen mit dreckigen abblätternden Tapeten voller Stockflecken, die Bettstatt gefüllt mit altem Stroh und die Gebärende auf Lumpen, so dass wir zunächst alle Zeitungen zusammenrafften, um ein einigermaßen sauberes Lager zu schaffen und die Wöchnerin nicht hinterher in Feuchtigkeit liegen zu lassen …“ [2].

Die Nachkriegszeit und die Hyperinflation der 1920er Jahre trafen besonders die Armen und unter ihnen die Frauen: „… Eines Nachts wurden wir ganz dringend in ein Haus in der Elsässer Straße dicht am Oranienburger Tor gerufen. Als wir mit Hilfe unserer Taschenlampen die Tür im Erdgeschoß des 3. Hinterhofes endlich gefunden hatten, kamen wir in einen dämmrigen, sehr sauberen, aber armseligen Raum, in dem zwei Prostituierte hausten. Die Einrichtung bestand aus zwei Stühlen, einem Schrank, einem alten wackligen Mahagonitisch, dessen ovale Platte auf einer Mittelsäule thronte, einem Bidet in der einen Ecke und einem Spirituskocher auf einem kleinen Hocker in der anderen. Hinten an der Wand, vermutlich von beiden Bewohnerinnen abwechselnd, so wie es gerade kam, zur Ruhe oder zu beruflichen Zwecken benutzt, eine dicke, breite, mit einem Leinentuch überzogene Matratze. Darauf lag mit schwachem, fliegendem Puls, trockenen borkigen Lippen und fahlem Gesicht in einer Blutlache eine fast ausgeblutete junge Frau, die leise vor sich hinwimmerte. Neben ihr kniete, selbst im 6. Monat schwanger, völlig erschöpft und verängstigt, ihre Zimmergenossin, ein blondes, bildhübsches Ding, und hielt eine alte Küchenlampe. Ich sauste in die Ecke, zündete den Kocher an und setzte die Instrumente auf. Dann rückte ich den Tisch zurecht, polsterte die Platte mit einer zusammengelegten Wolldecke und legte darauf aus unserer Bereitschaftstasche das Wachstuch. Da keine Hebamme da war, fragten wir die Schwangere, ob sie den Anblick des kleinen Eingriffes aushalten und uns leuchten könne, was sie bejahte. Inzwischen hatte sich der Volontär gewaschen, ich lagerte die Patientin auf dem Tisch und leitete die Narkose ein. Als der Volontär fast mit der Ausräumung der Fehlgeburt fertig war, tat die Hochschwangere plötzlich einen tiefen Seufzer, sackte in sich zusammen und ließ die brennende Lampe fallen. Das Petroleum breitete sich schnell auf dem Fußboden aus, und plötzlich züngelten in der Dunkelheit kleine blaue Flämmchen. Ich ließ die Narkose Narkose sein, zerrte die dicke Wolldecke unter der Patientin hervor und erstickte mit ihr die Flammen. Der Operateur war inzwischen im Dunkeln auch fertig geworden, allerdings etwas tiefer. Das Hervorreißen der Decke hatte nämlich der altersschwache Tisch übel genommen und war zusammengebrochen, so dass schließlich Patientin, Operateur, Narkotiseur und Beleuchterin auf dem Fußboden vereint waren. Ich holte meine elektrische Taschenlampe und entnahm der Bereitschaftstasche zwei Stearinkerzen, und dann machten wir uns daran, das Schlachtfeld aufzuräumen. Unseren Vorschlag, eine Hebamme zu besorgen, lehnten sie unter Tränen ab. Das könnten sie nie bezahlen, zumal sie schon durch das Krankenlager auf der Matratze für mehrere Tage keinen Verdienst gehabt hätten. Als wir aufbrachen und jede Bezahlung unserer Unkosten ablehnten, überboten sie sich in Dankesbezeugungen. Nie habe ich begreifen können, dass solche armen Wesen im Volksmund ausgerechnet als Freudenmädchen bezeichnet werden.“ [2]

Werner Forßmann schilderte noch Jahrzehnte später die teilweise grotesken Situationen aus dem Zille-Milieu der damaligen Hauptstadt der Weimarer Republik: „… Im dritten Stock des vierten Hinterhofes einer großen Mietskaserne in der Nähe des Alexanderplatzes war eine hohe Zange fällig, zu der Oberarzt Dunkel gekommen war. Alles stand bereit, die Patientin war auf einem festen Tisch gelagert. Nur der Ehemann (…) weigerte sich standhaft, das Zimmer zu verlassen. Er wolle bei der Entbindung seines ersten Kindes dabei sein. Aber kaum hatte ich die Frau eingeschläfert, riß er mit dem Angstschrei: ‚Sie stirbt, sie stirbt!‘ die Maske von ihrem Gesicht und warf mit einem verzweifelten: ‚Die Schweine wollen bloß meine Frau umbringen!‘ alle sterilen Instrumente auf den Boden. Er drückte einen feuchten Schmatz nach dem anderen auf die Lippen der Chloroformierten und klammerte sich so an ihr fest, dass ich ihn kaum losbekommen konnte, als der Oberarzt brüllte: ‚Forßmann, sperren Sie den Kerl ein!‘ Mühsam schleifte ich ihn über den dunklen Flur und buchtete ihn in der Toilette ein. Während wir mit frisch von der Hebamme abgekochten Instrumenten weiterarbeiteten, kletterte der Eingesperrte auf den Abtrittdeckel und schrie durch das schmale Lokusfenster auf den Hof herunter: ‚Hilfe, Hilfe, Mörder, Mörder! Sie bringen meine Frau um! Holt die Polizei!‘ Die Hebamme riß das Küchenfenster auf und schrie ihrerseits herunter, dass alles in Ordnung sei. Nun lief alles programmgemäß ab. Das Kind war schnell zur Welt gebracht, und der befreite Ehemann konnte sich vor Glück kaum fassen und bewirtete uns mit Malaga und Schnitzeln …“ [2]

Die Methoden der vorgeburtlichen Überwachung divergierten vor inzwischen über hundert Jahren deutlich vom heutigen Herangehen. Dennoch staunt man heute doch wie sehr das der Fall war, wenn man liest: „Unter den Volontären gab es große Lebenskünstler, die langdauernde Geburten auf ihre eigene Art erledigten. Einer von ihnen, (…), zog, sobald er seinen telefonischen Bericht durchgegeben hatte und nicht mehr mit einer Überraschung durch den Oberarzt zu rechnen brauchte, Rock, Weste und Stiefel aus und legte sich in das Bett des Ehemannes neben die Gebärende. Mit ausgestrecktem Arm tastete er bei jeder dritten oder vierten Wehe nach dem Uterus. Auf der anderen Seite der Kreißenden hockte auf einem Schemelchen der Hauspraktikant und musste des Doktors besonders langes Schlauchstethoskop an die richtige Stelle halten, damit er sich beim Abhören der kindlichen Herztöne nur ja nicht aufzurichten brauchte. Die Hebamme ging derweil in Filzpantoffeln hin und her und sorgte nach dem alten Spruch: ‚Hauptsache, dass das Kind Luft hat und die Hebamme Kaffe!‘ für unser leibliches Wohl …“ [2]

Nun, Werner Forßmann wurde letztlich kein Frauenarzt, obwohl er als Praktikant in Berlin „etwa neunzig normale und pathologische Geburten gesehen und über dreißig völlig selbständig durchführen“ konnte [2]. Er ging nach dem Studium als Assistent zu Sanitätsrat Richard Schneider (1869–1962) an die II. Chirurgische Abteilung im Auguste-Viktoria-Heim Eberswalde [2] [3]. Dort führte er seinen Selbstversuch der Herzkatheterisierung durch [4] [5], der zur Ehrung mit dem Nobelpreis für Medizin und Physiologie führte, der ihm 1956 gemeinsam mit André Frédéric Cournand (1895–1988) und Dickinson W. Richards (1895–1973) [6] [7] [8] in Stockholm verliehen wurde. Unterstützt durch seinen Chef in Eberswalde wurde Forßmann dann 1929 zunächst unbezahlt bei Ferdinand Sauerbruch (1875–1951) mit der Aussicht auf eine bezahlte Assistentenstelle eingestellt [2] [9]. Nach Erscheinen der wegweisenden Publikation Forßmanns [2] [4] und ihrem zeitgleichen Echo in der Berliner Boulevardpresse entließ Sauerbruch den jungen Arzt, der sich eigentlich bei ihm habilitieren wollte, wegen vermeintlicher Plagiatsvorwürfe arrogant mit den Worten: „Mit solchen Kunststückchen habilitiert man sich in einem Zirkus und nicht an einer anständigen deutschen Klinik!“ [2] [9]. Der weitere Lebenslauf Forßmanns ist stichpunktartig schnell erzählt: 1930 Wiedereintritt in die Eberswalder Klinik, 1931 Wiederaufnahme in die Sauerbruch-Klinik, 1932 Eintritt in die NSDAP und Assistent bei Wilhelm Jehn (1883–1935), einem ehemaligen Oberarzt Sauerbruchs in Mainz; 1933 Heirat mit Elisabeth Engel und Ausbildung bei dem Urologiespezialisten Karl Heusch (1894–1986) in Berlin, Oberarzt im Rudolf-Virchow-Krankenhaus Berlin, 1936 Wechsel Forßmanns auf eine Oberarztstelle bei Albert Fromme (1881–1966) in Dresden, 1938 Oberarzt im Robert-Koch-Krankenhaus Berlin-Moabit, Kriegsausbruch, Wehrdienst in Polen, Norwegen und Fronteinsatz im Osten, die „Versöhnung“ mit Sauerbruch an der russischen Front, Leitung verschiedener Lazarette (hier u. a. Teilnahme an Hinrichtungen), das Kriegsende, Flucht in den Westen Deutschlands, amerikanische Kriegsgefangenschaft, das Wiederfinden der Familie, Berufsverbot und Einstufung als „Mitläufer“ durch die Alliierten, Neustart in Bad Kreuznach, die Arbeit als praktischer Arzt [2] [9] [10]. Und dann kam 1956 plötzlich der unerwartete Anruf aus Stockholm mit der Verkündung des Nobelpreises, später die geneidete Chefarztstelle in Düsseldorf, die Honorarprofessur in Mainz und die konservativen Alterseinsichten [2] [9]. 1959 kehrte Forßmann – bereits hochgeehrt – noch einmal in die Universitäts-Frauenklinik zurück und schrieb in „sein“ Praktikantenbuch: „In Erinnerung an alte Zeiten“ [1]. Wann und wo sich Werner Forßmann mit dem damaligen Klinikdirektor Helmut Kraatz (1902–1983) traf und ob sie bei dieser Gelegenheit auch den greisen Walter Stoeckel besuchten, ist leider nicht überliefert.



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Article published online:
06 November 2025

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