Psychiatr Prax 2025; 52(07): 359-361
DOI: 10.1055/a-2684-6960
Editorial

Müssen wir die Enquete hinter uns lassen?

Do we have to leave the Enquete behind us?

Authors

  • Georg Schomerus

    1   Department für Psychische Gesundheit, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Leipzig
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Vor 50 Jahren wurde der Bericht der Enquete-Kommission über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland fertiggestellt. Dieser Bericht kann in seiner Wirkung nicht überschätzt werden. Er wurde in der Bundesrepublik, und später im vereinigten Deutschland, zu einem Orientierungspunkt für eine menschenfreundlichere, sozialere Gestaltung der Psychiatrie. Der Bericht war die Grundlage für einschneidende Verbesserungen, etwa für die Einführung einer Personalverordnung für Psychiatrische Kliniken, und für den Aufbau gemeindepsychiatrischer Strukturen. Nahezu alle sozialpsychiatrischen Fortschritte der letzten Jahrzehnte nehmen Bezug auf die Enquete (und auch auf die Rodewischer Thesen, die bereits 1963 von progressiven Psychiatern und Psychiaterinnen in der DDR formuliert worden waren). Jetzt, zum 50. Jahrestag der Fertigstellung des Enquete-Berichts, liegt es nahe, zurück zu schauen, Bilanz zu ziehen und festzustellen, an welchen Stellen wir den Zielen der Enquete immer noch nicht gerecht werden.

So weit, so gut. Aber offen gestanden beschleicht mich bei solchen Rück- und Ausblicken ein Unbehagen. Was sicher nicht daran liegt, dass die Ziele der Psychiatriereform weniger aktuell oder weniger erstrebenswert geworden sind. Sie haben erstaunlich wenig von ihrer Aktualität eingebüßt, und wir müssen immer weiter an der Verbesserung der psychiatrischen Versorgung arbeiten. Und gleichzeitig habe ich den Verdacht, dass wir, indem wir auf die Enquete blicken, etwas Wichtiges übersehen. Und auch auf die Gefahr hin, Dinge unzulässig zu vereinfachen und der vielschichtigen Geschichte der Psychiatriereform in vielen Teilen nicht gerecht zu werden, möchte ich dieses Unbehagen einmal ausbuchstabieren.

Die Enquete ist 50 Jahre her. Und nicht nur die Psychiatrie hat sich in diesen 50 Jahren verändert, sondern auch die Gesellschaft. Die Psychiatriereform entstand aus einer Auseinandersetzung der Gesellschaft mit der Psychiatrie, im Nachkriegsdeutschland genau wie in anderen westlichen Ländern. Die Psychiatrie war nicht da, wo eine offenere, progressivere Gesellschaft schon hingekommen war oder sich hin entwickeln wollte. Die „totale Institution“ [1] war eine Struktur aus der Vergangenheit, die nicht mehr zu den Werten und dem Menschenbild einer modernen Gesellschaft passte. Die Psychiatrie der großen Anstalten zementierte Machtstrukturen, die überwunden werden mussten, und perpetuierte ein rückständiges Bild von psychischer Krankheit. Es gab offensichtlichen Anlass, die Psychiatrie zu reformieren. Die Psychiatrie musste dafür gesellschaftliche Impulse aufgreifen und sich mit sich selbst beschäftigen, um besser zu werden. Soziologen wie Erving Goffman blickten auf die Psychiatrie, weil sie von außen Dinge sahen, die von innen nicht erkannt wurden. Die Psychiatrie brauchte den gesellschaftlichen Input, um sich zu modernisieren, um sich neu zu denken, um sich zu verändern.

Das ist nicht unsere Situation heute. Es ist heute nicht eine progressive Gesellschaft, die die Psychiatrie in Frage stellt. Stattdessen blicken wir aus der Psychiatrie heraus auf eine Gesellschaft, die unsolidarischer und ausgrenzender wird, und in der Autoritarismus eine reale Bedrohung ist. Wenn wir heute auf unsere Gegenwart schauen, und uns überlegen, was Psychiatrie in Zukunft bedeuten und leisten soll, dann sehen wir Trends, die enormen Einfluss auf die Gesundheit und die Teilhabe gerade von Menschen mit schweren psychischen Krankheiten haben, die aber weitestgehend außerhalb der Psychiatrie verortet sind. Wenn sich die Psychiatrie angesichts dieser Trends vor allem mit sich selbst beschäftigt, dann ändert sie tatsächlich wenig an der Lebensrealität von Menschen mit schweren psychischen Krankheiten.

Ich möchte das anhand von ein paar Beispielen illustrieren. Wir sehen in der Öffentlichkeit Sündenbockdebatten auf Kosten von Menschen, die vulnerabel, fremd oder schwierig sind. Etwa die Debatte um Register für psychisch Kranke, aber auch um Zurückweisungen an den Grenzen – es gibt offenbar ein wachsendes Bedürfnis nach Ausgrenzung, nach Selbstvergewisserung in einem „Wir“, das „Andere“ ausschließt. Das hat Folgen für Menschen in psychischen Krisen. Tatsächlich sehen wir, obwohl insgesamt die mental health awareness zunimmt [2], eine zunehmende Stigmatisierung von Menschen mit schweren psychischen Krankheiten, besonders von Menschen mit Schizophrenie [3] [4].

Wir sehen eine wachsende Individualisierung der Gesellschaft, einen Verlust an verbindlichen Sozialstrukturen und eine wachsende subjektive Überforderung angesichts der vielfältigen Anforderungen der modernen Welt [5]. Zum Beispiel wächst der Anteil der Einpersonenhaushalte stetig, von 19% im Jahr 1950 auf 41% im Jahr 2023[1]. Auch das hat unmittelbare Auswirkung auf das Leben von Menschen mit psychischen Krankheiten.

Wir sehen Wohnungsnot und steigende Mieten in den Ballungsräumen. Die wachsende Differenz zwischen Bestandsmieten und Mieten bei Neuvermietung führt dazu, dass Menschen, die in Krisen ihre Wohnung verlieren, keine bezahlbare Wohnung mehr finden. Wir entlassen deshalb immer mehr Menschen in die Obdachlosigkeit. Wir behandeln Menschen, die in der Außenwelt offenbar keine verbindlichen, tragenden Beziehungen haben und deshalb immer wieder die Aufnahme in der Psychiatrie suchen. Menschen, für die es keine geeigneten Wohnheime oder andere betreute Wohnformen gibt, und die deshalb oft länger als psychiatrisch indiziert in den Kliniken verbleiben.

Und schließlich sehen wir mehr Gewalt. Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer spricht von einer „Durchrohung“ der Gesellschaft [6], und das spüren wir auch in der Psychiatrie. Die aktuelle Ausgabe von „Klinik Management aktuell“ widmet dem Thema Sicherheit der Mitarbeiter gleich mehrere Artikel [7], und das hat ja einen Grund. Wir haben Teams in der Akutpsychiatrie, die unter der alltäglichen Belastung in die Knie gehen, einer Belastung, die angesichts der wachsenden Personalnot noch größer zu werden droht.

Das ist eine zugegeben unvollständige und verkürzte Aufzählung von Problemen, mit denen sich die Psychiatrie konfrontiert sieht. Sie soll verdeutlichen: In der Psychiatrie laufen die Spannungslinien der Gesellschaft zusammen. Gesellschaftliche Trends und Probleme werden in der Psychiatrie besonders deutlich sichtbar. Nur lösen können wir diese Probleme in der Psychiatrie nicht.

Es reicht deshalb nicht aus, mit kritischem Blick auf die Psychiatrie zu schauen. Es ist immer gut und notwendig, sich damit zu beschäftigen, wie die Psychiatrie besser und menschenfreundlicher werden kann. Aber die Probleme, die von außen die psychiatrische Arbeit bestimmen, werden zu drängend, die Entwicklungen sind zu drastisch, als dass sich die Psychiatrie drauf beschränken könnte, sich einfach besser an die gesellschaftliche Situation anzupassen und unter den gegebenen Umständen möglichst gut zu funktionieren.

Denn am Ende geht es ja gar nicht um die Psychiatrie. Es geht um die Genesung und Teilhabe von Menschen mit schweren psychischen Krankheiten. Und die wird eben maßgeblich, und nach meinem Eindruck auch zunehmend, von Faktoren außerhalb der Psychiatrie bestimmt. Es ergibt keinen Sinn, Behandlung zu ambulantisieren, wenn die Menschen, die wir behandeln, keinen Platz in der Gesellschaft haben. Aufsuchende Hilfe bei Menschen in Obdachlosigkeit ist wichtig, aber sie ersetzt keine Unterkunft. Stationsäquivalente Behandlung im Heim für Geflüchtete ist innovativ, aber sie verringert die Ausgrenzung von Menschen mit anderer Herkunft nicht. Die Vermeidung von Zwang ist elementar für gute psychiatrische Arbeit, aber sie löst nicht das Problem zunehmender Gewalt.

Mit der Psychiatrie-Enquete richtete die Gesellschaft ihren Blick auf die Psychiatrie. Heute müssen wir als Psychiater und Psychiaterinnen auf die Gesellschaft blicken und sagen, was wir sehen. Wir haben das Privileg, sehr viele Probleme aus nächster Nähe zu sehen, und deshalb müssen wir diese Probleme benennen. Und wir müssen die naheliegenden politischen Forderungen stellen. Menschen müssen eine Wohnung haben. Menschen müssen einen Platz in der Gesellschaft haben und diskriminierungsfrei leben können. Teilhabe ist keine Therapie, sondern eine politische Forderung.

Die Psychiatrie muss politischer werden, weil die Probleme, die wir in der Psychiatrie überdeutlich sehen und die unsere Arbeit bestimmen, keine psychiatrischen, sondern gesellschaftliche und damit politische Lösungen erfordern. Dafür müssen wir mit anderen Gruppen für gemeinsame, übergeordnete Ziele zusammenarbeiten. Glaubwürdig politisch auftreten kann die Psychiatrie dabei nur gemeinsam mit Menschen mit eigener Krankheitserfahrung. Wir müssen gute Verbündete sein, wir müssen uns mit Menschen, die wenig sichtbar sind, zusammenschließen und den gemeinsamen Anliegen Sichtbarkeit verschaffen. Für eine solidarische Gesellschaft, in der dann auch die psychiatrische Arbeit besser und leichter wird.

Es ist gut, wenn der Geburtstag der Enquete Anlass ist, über psychiatrische Versorgung und die Situation von Menschen mit psychischen Krankheiten nachzudenken. Aber wir dürfen dabei nicht beim Blick auf die Psychiatrie stehen bleiben. Die Enquete ist historisch, und die Gegenwart hat ihre ganz eigenen Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen.



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Article published online:
21 October 2025

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