RSS-Feed abonnieren
DOI: 10.1055/a-2689-9804
Was unterdrückt wird, ist nicht verschwunden
Autoren
Die moderne Medizin hat große Fortschritte gemacht: Es sterben viel weniger Menschen an akuten Erkrankungen, und die Lebenserwartung steigt. Die moderne Medizin hat im Ganzen betrachtet kläglich versagt: Der Anteil an chronisch Erkrankten hat stetig zugenommen, auch unter jüngeren Menschen, ihr Einsatz selbst ist inzwischen die dritthäufigste Todesursache in der westlichen Welt, und es gibt immer mehr Resistenzen gegen Antibiotika. Diese Reihe ließe sich noch lange fortführen, wobei nicht verschwiegen werden darf, dass hier der Lebensstil vieler Menschen ein wichtiger pathogener Faktor ist, worauf bereits Samuel Hahnemann in seinen Chronischen Krankheiten hingewiesen hat. Kurzum, die Menschen werden nicht gesünder, sondern sie sind nur anders krank, und wir müssen uns zunehmend dringlicher fragen, wie wir, neben einer Lebensstilmodifikation, mit den zur Verfügung stehenden medizinischen Ressourcen gesundheitsfördernd umgehen können. Und hier kommt die Frage ins Spiel, ob wir nicht mit milderen Mitteln versuchen sollten, die Gesundheit unserer Patienten wiederherzustellen. Eine weitere wichtige Frage ist, wieweit wir mit vielen chemisch-pharmakologischen Maßnahmen mit teilweise bescheidener Evidenz die Krankheitsdisposition nicht verändern, sondern nur oberflächlich arbeitend die Symptome unserer Patienten zum Preis eines sogenannten Etagenwechsels der Erkrankung behandeln und sie damit letztendlich unterdrücken und eben nicht heilen.
Diesen Fragen gehen die Arbeiten in diesem Heft mit ganz unterschiedlichen Schwerpunkten nach, denn die Homöopathie hat hier sowohl theoretisch als auch praktisch sehr viel anzubieten. Zunächst versuche ich in einer Übersichtsarbeit die bisher hervorgebrachten Positionen der verschiedenen homöopathischen Strömungen zusammenzufassen und Modelle vorzustellen, die helfen können, eine Orientierung bei der Einschätzung des Krankheits- und Heilungsverlaufs zu behalten.
Die indische Homöopathin Kavita Chandak setzt sich in ihrem Artikel zum Spannungsfeld von Unterdrückung und Palliation mit der Theorie auseinander und zeigt an Fallbeispielen, wie eine ganzheitliche Behandlung bei stattgefundener Unterdrückung zielführend aussehen kann. Schließlich widmet sich Ernst Trebin der gerne vernachlässigten Unterdrückung durch Homöopathie, einem Thema, das meiner Meinung nach noch viel mehr Beachtung, guter Falldokumentationen und Forschung bedarf, um uns nicht in die Falle oberflächlicher Behandlungen durch den oft nur wenig reflektierten Umgang mit bewährten Anwendungen und kurzen Wegen der homöopathischen Arzneifindung zu führen.
Schließlich drucken wir den 2. Teil des Interviews mit Stephan Baumgartner zum Stand der Forschung zur Homöopathie, das wir im letzten Heft begonnen haben.
Wenn ich als Jugendlicher Science-Fiction-Romane gelesen habe, war das Jahr 2025 etwas, das in unvorstellbarer Ferne lag, die medizinischen Möglichkeiten schienen unermesslich und die Technik unfassbar weit fortgeschritten. Eine Utopie, aus der ich langsam erwachend erkennen durfte, dass auch im Jahre 2025 nur mit Wasser gekocht wird und viele Probleme lediglich eine etwas andere Akzentuierung bekommen haben. Und doch hat im vergangenen Jahr mit dem inzwischen ubiquitären Einsatz der KI die Welt begonnen, eine für den menschlichen Verstand nur noch rudimentär verstehbare Entwicklung zu nehmen, die auch vor der Homöopathie nicht Halt machen wird. Auch wenn es sich genau genommen nicht um eine Intelligenz, sondern um ein Sprachmodell handelt, könnte sie bald in der Transkription der Anamnesetexte und deren Analyse und nicht zuletzt auch in der Erstellung wissenschaftlicher Arbeiten und auch der Allgemeinen Homöopathischen Zeitung eine zunehmende Rolle spielen. Harren wir der Dinge mit einer offenen Neugier und danken wir für Ihr Interesse als Leser und für das Engagement der vielen Autoren, die für uns im letzten Jahr neue Perspektiven erschlossen oder Altbewährtes gut aufgearbeitet haben.
Möge das neue Jahr mehr Frieden und eine wertschätzendere und differenzierendere Begegnungskultur bringen, um ein tieferes Verständnis von Heilung im Kleinen wie im Großen zu ermöglichen.
Ulrich Koch
Publikationsverlauf
Artikel online veröffentlicht:
12. November 2025
© 2025. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany