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DOI: 10.1055/a-2717-8537
Einführung der Notfallkategorien in der Notfallrettung des Landes Berlin durch die Berliner Feuerwehr
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Zum 25.03.2025 erfolgte in der Notfallrettung des Landes Berlins durch die Berliner Feuerwehr die Einführung der sogenannten Notfallkategorien. Im Folgenden werden die Hintergründe der Einführung sowie erste Erfahrungen 4 Monate nach Implementierung der Notfallkategorien dargelegt.
Die Notfallrettung und der Notfalltransport werden von der Berliner Feuerwehr gemäß Rettungsdienstgesetz des Landes Berlins (RDG) als Ordnungsaufgabe wahrgenommen. Dabei obliegt es der Ärztlichen Leitung Rettungsdienst (ÄLRD), sowohl die Versorgungsstandards zu definieren als auch Festlegungen zu den Prozessen für die Bearbeitung von medizinischen Hilfeersuchen und die Disposition von Rettungsmitteln durch die integrierte Leitstelle zu treffen [1].
Die Herausforderung eines stetig steigenden Bedarfes an medizinischer Notfallversorgung ist ein bundesweites Phänomen und betrifft bekanntermaßen nicht nur das Land Berlin [2]. Hiervon sind sowohl die präklinische als auch die innerklinische Patientenversorgung betroffen. Diese Grundproblematik ist sicherlich multifaktoriell bedingt. Es bedarf dringend effektiver, realisierbarer und finanzierbarer Lösungsansätze, um dieser Entwicklung heute und in Zukunft zu begegnen.
Festzustellen ist: Erfolgten im Jahr 2008 in der Bundesrepublik Deutschland noch 2,91 Millionen Notfalleinsätze im öffentlichen Rettungsdienst waren es im Jahr 2016 bereits 4,28 Millionen Einsätze [3].
Ähnlich stellt sich auch im Land Berlin die Situation dar: Gab es im Jahr 2010 279599 Einsätze im Rettungsdienst, waren es im Jahr 2023 bereits 465449 Einsätze in der medizinischen Gefahrenabwehr. Dies entspricht einem Zuwachs von mehr als 66% innerhalb von 13 Jahren [4] [5].
Diese Entwicklungen finden sich auch in vergleichbaren Metropolregionen wie Hamburg oder München wieder und bewirken in Kombination mit einem angespannten Arbeitsmarkt für medizinische Fachkräfte und begrenzten Ressourcen eine zunehmend schwierigere Sicherstellung des Rettungsdienstes. In Flächenländern sind ebenfalls derartige Entwicklungen zu beobachten. Aufgrund der grundlegend unterschiedlichen infrastrukturellen Voraussetzungen, insbesondere bei der Betrachtung der Krankenhauslandschaft, sind etwaige Lösungsansätze aber nur bedingt geeignet, sowohl im urbanen Raum als auch in ländlichen Regionen mit gleicher Effektivität implementiert zu werden [2].
Der beschriebene Anstieg an Einsätzen in der medizinischen Gefahrenabwehr bedingte im Land Berlin sukzessive ein erhebliches Missverhältnis zwischen den eingehenden Hilfeersuchen über den Notruf und den zur Verfügung stehenden Rettungsmitteln. Traten im Land Berlin im Jahr 2010 noch an 2 Tagen im Jahr eine derartig hohe Einsatzbelastung im Rettungsdienst auf, dass seitens der Berliner Feuerwehr der sog. Ausnahmezustand ausgerufen werden musste [6], war dieses im Jahr 2022 331-mal der Fall [7].
Noch deutlicher wird das Missverhältnis zwischen eingehenden Hilfeersuchen und zur Verfügung stehenden Rettungsmitteln bei der Betrachtung des Erreichungsgrades der Schutzziele im Land Berlin. Das Schutzziel enthält Vorgaben für das Eintreffen der Feuerwehr und des Rettungsdienstes am Einsatzort. Es definiert für bestimmte Einsatzarten, in welcher Zeit und Stärke die Feuerwehr und der Rettungsdienst am Einsatzort eintreffen sollen. Darüber hinaus legt es fest, in wie viel Prozent der Fälle diese Vorgaben eingehalten werden müssen. Ein wesentlicher Qualitätsindikator ist demnach der prozentuale Anteil der Einsätze, bei denen ein Rettungsmittel innerhalb einer definierten Zeit nach Notrufeingang am Einsatzort eintrifft (Hilfsfrist). Die Einhaltung dieser Frist wird durch die Notrufannahme- und -bearbeitungszeit in der Leitstelle, die Alarmierungs- und Ausrückzeit und die Fahrzeit zum Einsatzort bestimmt. Der wesentliche Einflussfaktor ist jedoch die Verfügbarkeit von Rettungsmitteln.
In den Jahren 2014 bis 2023 betrug der Erreichungsgrad der Schutzziele stets weniger als 60%, obwohl das Soll mit 90% definiert wurde. Konkret bedeutete dies, dass der Einsatzort in weniger als 60% der Einsätze innerhalb von 8 Minuten nach Notrufeingang erreicht werden konnte. In den Jahren 2014 bis 2016 lag der Erreichungsgrad sogar bei weniger als 40%, weshalb zum Jahr 2017 eine Anpassung der Hilfsfrist in der Notfallrettung von 8 auf 10 Minuten erfolgte. Nichtsdestotrotz konnte aufgrund des stetig steigenden Bedarfes auch in den Folgejahren das Soll von 90% nicht ansatzweise erreicht werden [5].
Grundlegende Problematik hierbei ist jedoch insbesondere die Tatsache, dass das Nichterreichen des Sollzieles weitgehend undifferenziert erfolgte. Dies bedeutete, dass unabhängig von der gemeldeten Schwere des medizinischen Notfalls kaum Möglichkeiten bestanden, auf den Erreichungsgrad des Schutzzieles Einfluss zu nehmen. Lediglich durch den Einsatz sog. First Responder konnte in besonders kritischen Situationen, wie beispielsweise Einsätze mit dem Stichwort „Reanimation“, versucht werden, auch bei Nichtverfügbarkeit von originären Rettungsmitteln eine erste medizinische Versorgung zeitnah zu gewährleisten. Insgesamt erfolgte aber die Entsendung der Rettungsmittel weitgehend gemäß dem Grundsatz „First come, first served“.
Bis zum Jahresende 2022 spitzte sich die Lage in der Notfallrettung derart zu, dass es mehrfach zu Situationen kam, in denen über mehrere Minuten hinweg kein einziger Rettungswagen (RTW) im gesamten Stadtgebiet verfügbar war [8]. Somit herrschte zum Jahresende 2022 unmittelbarer Handlungsbedarf zur Stabilisierung des Rettungsdienstes im Land Berlin.
Als Reaktion wurde am 13.02.2023 seitens des Berliner Abgeordnetenhauses bereits eine Verordnung erlassen, welche es der Berliner Feuerwehr ermöglichte, in besonderen Lagen Fahrzeuge im Rettungsdienst abweichend von der im RDG regelhaft vorgesehenen Qualifikation zu besetzen. Somit war es unter bestimmten Voraussetzungen möglich, in der Notfallrettung und im Notfalltransport RTW in beiden Funktionen mit Rettungssanitätern zu besetzen. Diese sog. RDAbweichV (Verordnung über Abweichungen von den Fahrzeug- und Besetzungsregelungen für Einsatzmittel des Rettungsdienstes in besonderen Lagen) war jedoch zunächst auf besondere Lagen beschränkt und initial zeitlich befristet [9].
Aufgrund der positiven Erfahrungen, die man im Land Berlin im Rahmen der Inanspruchnahme der RDAbweichV gesammelt hatte [10], wurde im Sommer 2024 der Einsatz von Rettungssanitätern durch den Gesetzgeber verstetigt. Durch die Änderung des RDG war es nun gestattet, nach Maßgabe der ÄLRD in vertretbaren Situationen auch Rettungssanitäter in verantwortlicher Position, d. h. in Patientenverantwortung, in der Notfallrettung einzusetzen. Somit standen im Land Berlin nunmehr 3 Qualifikationsniveaus im Rahmen der Notfallrettung zur Verfügung. Ein ausschließlich mit Rettungssanitätern besetzter RTW (sog. RTW Typ B), ein mit Notfallsanitätern oder Rettungsassistenten besetzter RTW (RTW Typ C) und zudem notärztlich besetzte Einsatzmittel wie NEF, RTH, ITW oder andere. Dies stellte eine wesentliche strukturelle Grundvoraussetzung auf dem Weg zur Implementierung der Notfallkategorien dar.
Eine weitere zentrale Voraussetzung für die Einführung der Notfallkategorien ist das standardisierte Notrufabfragesystem der Leitstelle (ProQA, Fa. Priority Dispatch). Dabei wird – vereinfacht dargestellt – anhand der Angaben am Notruf durch standardisierte Fragen ein Code generiert, der den Notfall beschreibt. Aus dem Einsatzcode geht klar und reproduzierbar hervor, ob anhand der Angaben am Notruf eine akute Vitalgefährdung vorliegt oder nicht [11].
Im nächsten Schritt erfolgte auf Basis von rund 2,9 Millionen dokumentierten Notfalleinsätzen aus dem digitalen Dokumentationssystem der Berliner Notfallrettung (RIKS) eine medizinische Auswertung durch die ÄLRD. Ziel war es, die generierten Einsatzcodes hinsichtlich ihrer tatsächlichen zeitlichen Dringlichkeit zu klassifizieren. Dabei wurde das Verfahren an innerklinische Triage-Systeme angelehnt, insbesondere an das seit vielen Jahren etablierte Manchester Triage System. Auch hier stand die Einschätzung des unmittelbaren medizinischen Handlungsbedarfs im Vordergrund. Für die Kategorisierung wurden unter anderem Vitalparameter aus dem rettungsdienstlichen Erstbefund (insbesondere Sauerstoffsättigung [SpO2], Glasgow Coma Scale [GCS]), rettungsdienstliche Diagnosen bzw. Zustandsbilder (insbesondere Tracerdiagnosen und Kreislaufstillstände) sowie etablierte Scoring-Systeme – wie beispielsweise numerische Ratingskala (NRS) und NACA (National Advisory Committee for Aeronautics) – berücksichtigt.
Auf dieser Datenbasis wurde eine Einteilung in 5 Dringlichkeitsstufen vorgenommen ([Abb. 1]). Diesen wiederum wurden 3 Versorgungslevel zugeordnet ([Abb. 2]). Die Versorgungslevel definieren den Grad der medizinischen Expertise, der erforderlich ist, um das zugrunde liegende Krankheits- oder Verletzungsbild adäquat zu beurteilen, erstzuversorgen oder zu behandeln. Besonders berücksichtigt wurde dabei, ob eine differenzierte medizinische Untersuchung absehbar notwendig ist.




Die Kombination aus Dringlichkeitsstufe und erforderlichem Versorgungslevel ergibt die Notfallkategorien ([Abb. 3]).


Wichtig zu erwähnen ist, dass Einsätze der Kategorie 5 (RD5) nicht mehr durch die Leitstelle der Berliner Feuerwehr mit Rettungsmitteln disponiert werden. Stattdessen erfolgt hier eine Weiterleitung an geeignete Kooperationspartner, im Wesentlichen an den Patientenservice der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin [11].
Die Betrachtung der ersten 4 Monate nach Implementierung der Notfallkategorien zeigte, dass bei durchschnittlich 1299 Einsätzen pro Tag im Rettungsdienst durchschnittlich 753 Einsätze identifiziert wurden, die den Dringlichkeiten 1 und 2 (RD1 und RD2) entsprachen (dies bedeutete 7% für RD1 und 51% für RD2 in Bezug auf die gesamten Rettungsdiensteinsätze). Der Erreichungsgrad konnte auf 75,3% in der Dringlichkeit 1 (RD1) und 67,5% in Dringlichkeit 2 (RD2) verbessert werden. Insbesondere ist hervorzuheben, dass die mittlere Hilfsfrist für Rettungsmittel in der Dringlichkeitsstufe 1 (Reanimation und akute Lebensgefahr – höchste Priorität) auf 8,7 Minuten gesenkt werden konnte (bei Einsätzen mit dem Stichwortzusatz „Reanimation“ sogar auf 8,2 Minuten). In der Dringlichkeitsstufe 4 (RD4) konnte eine mittlere Hilfsfrist von 16,1 Minuten und ein Erreichungsgrad von 93,5% erzielt werden. Dies folgt dem zugrunde liegenden Prinzip der Triage und liegt immer noch deutlich unter den maximal 22 Minuten, die als Planungsgröße definiert wurden.
Zur frühzeitigen Identifikation möglicher Fehlentwicklungen wurde im Rahmen der Einführung der Notfallkategorien ein begleitendes Monitoring mit Fokus auf den Einsätzen in den Dringlichkeiten 3 und 4 (RD3 und RD4) unter medizinisch-qualitätsrelevanten Aspekten implementiert. Ziel war es, potenzielle Risiken für die Patientensicherheit zeitnah zu erkennen und bei Bedarf unmittelbar Anpassungen in der Kategorisierung vornehmen zu können. Bislang konnten im Rahmen dieses Monitorings keine relevanten systemischen Auffälligkeiten festgestellt werden, die auf eine potenzielle Gefährdung von Patientinnen und Patienten hindeuten würden. Ergänzend dazu erfolgen im Rahmen des sogenannten „Code-Reviews“ regelmäßig Reevaluationen der Einsatzcodes sowie der zugeordneten Notfallkategorien [11].
Vier Monate nach Einführung der Notfallkategorien lässt sich feststellen, dass durch die gestiegene Einsatzmittelverfügbarkeit für hochdringliche medizinische Notfälle eine relevante Verbesserung des Erreichungsgrades erzielt werden konnte. Diese Zielerreichung konnte auch in Phasen erhöhter Systemlast stabil aufrechterhalten werden. Gleichzeitig wurden in den Kategorien mit niedrigerer Dringlichkeit die angestrebten Planungsgrößen ebenfalls eingehalten. Bislang ergaben sich keine Hinweise auf systemische Patientengefährdungen.
Aus Sicht der ÄLRD stellt die Einführung der Notfallkategorien zum aktuellen Zeitpunkt eine klare Optimierung des präklinischen Versorgungssystems dar.
Publication History
Article published online:
24 November 2025
© 2025. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany
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Literatur
- 1 Land Berlin. Gesetz über den Rettungsdienst für das Land Berlin (Rettungsdienstgesetz – RDG) vom 8. Juli 1993. Accessed August 15, 2025 at: https://gesetze.berlin.de/bsbe/document/jlr-RettDGBErahmen
- 2 Krafft T, Neuerer M, Böbel S. et al. Notfallversorgung & Rettungsdienst in Deutschland. Partikularismus vs. Systemdenken. Gütersloh/Winnenden: Bertelsmann Stiftung/Björn Steiger Stiftung; 2022. ISBN: 9783982474403
- 3 Bundesanstalt für Straßenwesen. Rettungsdienst, Einsätze, u. a. nach Einsatzart. GBE - Gesundheitsberichterstattung des Bundes. 2025 Accessed August 15, 2025 at: https://www.gbe-bund.de/gbe/isgbe.archiv?p_indnr=459&p_archiv_id=7035743&p_sprache=D&p_action=A
- 4 Berliner Feuerwehr. Jahresbericht Berliner Feuerwehr 2010. 2011 Accessed October 08, 2025 at: https://www.berliner-feuerwehr.de/fileadmin/bfw/dokumente/Publikationen/Jahresberichte/jahresbericht2010.pdf
- 5 Berliner Feuerwehr. Jahresbericht Berliner Feuerwehr 2023. Accessed October 08, 2025 at: https://www.berliner-feuerwehr.de/fileadmin/bfw/dokumente/Publikationen/Jahresberichte/jahresbericht2023.pdf
- 6 Abgeordnetenhaus Berlin. Drucksache 19/10595; Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Alexander J. Herrmann (CDU) vom 13. Januar 2022 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 14. Januar 2022) zum Thema: Berliner Feuerwehr – Situation des Rettungsdienstes. Accessed October 08, 2025 at: https://pardok.parlament-berlin.de/starweb/adis/citat/VT/19/SchrAnfr/S19-10595.pdf
- 7 Abgeordnetenhaus Berlin. Drucksache 19/14600; Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Vasili Franco (GRÜNE) vom 16. Januar 2023 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 17. Januar 2023) zum Thema: Notfallsanitäter*innen bei der Berliner Feuerwehr – Ein vermeidbarer Personalmangel? und Antwort vom 01. Februar 2023 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 06. Februar 2023). Accessed October 08, 2025 at: https://pardok.parlament-berlin.de/starweb/adis/citat/VT/19/SchrAnfr/S19-14600.pdf
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- 9 Land Berlin. Verordnung über Abweichungen von den Fahrzeug- und Besetzungsregelungen für Einsatzmittel des Rettungsdienstes in besonderen Lagen (Fahrzeug- und Besetzungsabweichungsverordnung Rettungsdienst – RDAbweichV) vom 13. Februar 2023. Gültig ab: 23.02.2023. Gültig bis: 22.02.2025. Accessed August 15, 2025 at: https://gesetze.berlin.de/perma?d=jlr-RettDAbwVBErahmen
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