PiD - Psychotherapie im Dialog 2009; 10(1): 1-2
DOI: 10.1055/s-0028-1090184
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Sexuelle Identitäten

Wolfgang  Senf, Bernhard  Strauß
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Publication Date:
13 March 2009 (online)

Dieses Heft ist dem Thema „Sexuelle Identitäten” gewidmet und behandelt zwei Gruppen von deren potenziellen Beeinträchtigungen, nämlich die Transsexualität und die Intersexualität.

Zur Erläuterung des Titels und der Inhalte dieses Heftes bedarf es vorab einiger Klärungen und Präzisierungen. Der Begriff der „Geschlechtsidentitätsstörung” (GID, englisch: Gender Identity Disorder) bezeichnet ursprünglich eine medizinische bzw. psychologische Diagnose bei Menschen, die sich einem anderen als ihrem anatomischen Geschlecht zugehörig empfinden. In der Regel wird diese Störung als Transsexualität bezeichnet. In jüngster Zeit erfuhren aus psychotherapeutischer Sicht auch Menschen vermehrt Aufmerksamkeit, bei denen aufgrund körperlicher Fehlentwicklungen keine eindeutige Entwicklung der Geschlechtsorgane erfolgen konnte. Die Gruppe der damit verbundenen Störungen wird als Intersexualität bezeichnet. Beide Bezeichnungen dieser „Störungen” legen eigentlich nahe, dass es sich primär um „sexuelle” Problematiken handelt. Für die Transsexualität wurde dies im ICD-9 noch dadurch ausgedrückt, dass diese den „Sexuellen Verhaltensabweichungen und Störungen” zugeordnet wurde. Mit der Einführung der ICD-10 wurde das aber abgeändert, indem die Transsexualität unter den Störungen der Geschlechtsidentität (ICD-10: F64) klassifiziert wurde.

Weder bei der Intersexualität noch bei der Transsexualität geht es primär um „Sexualität” oder „Sex” in einem psychopathologischen oder gar landläufigen Sinne. Es handelt sich vielmehr um potenziell schwerwiegende und umfassende Störungen oder Beeinträchtigungen der Identität. Für die Transsexualität werden neuerdings häufig Begriffe wie Transgender oder Transidentität verwendet, was auch ausdrückt, dass es um eine umfassendere Identitätsthematik geht. Die Transsexualität beschreibt eine Besonderheit in der Entwicklung der Geschlechtsidentität, bei der die sexuelle Orientierung oder Sexualpräferenz nur ein Teilaspekt ist. Insbesondere ist hier eine eindeutige Abgrenzung zum Transvestitismus (ICD-10: F64.1) zu ziehen, ein von Magnus Hirschfeld (1910) geprägter Begriff für all die Menschen (Männer wie Frauen), die freiwillig Kleidung des anderen Geschlechts tragen, ohne dass die innere Notwendigkeit zu einem Wechsel in die andere Geschlechtsrolle besteht mit einer Geschlechtsumwandlung bis zur hormonellen und chirurgischen Korrektur.

Störungen der Geschlechtsidentität ziehen in der Psychotherapie leider weniger Aufmerksamkeit als skeptische Distanz auf sich. Gibt man zu erkennen, dass man mit transsexuellen Menschen oder mit Intersexuellen psychotherapeutisch arbeitet, findet man zwar schnell Aufmerksamkeit, in das Erstaunen über diese Launen der Natur mischt sich aber skeptische Distanz. Kaum jemand kann sich so recht etwas darunter vorstellen, was es bedeutet, „transsexuell” oder „intersexuell” zu sein. Gerne werden diese Menschen ins Travestie- oder sogar Rotlichtmilieu lokalisiert. Das hat eine Entsprechung bei dem Versuch, vor allem transsexuelle Menschen in eine Psychotherapie zu vermitteln, was gemäß den akzeptierten Behandlungsleitlinien eigentlich gefordert ist: Entweder bekommen sie keinen Termin oder es wird versucht, ihnen ihr Problem auszureden; viele Psychotherapeuten trauen sich die Behandlung nicht zu, gelegentlich werden Anträge mit dem Hinweis auf die fehlende Behandlungsnotwendigkeit abgelehnt. Möglicherweise noch schwieriger ist es bei einer Intersexualität, zumal hier wahrscheinlich noch weniger ein Bewusstsein darüber vorherrscht, dass Psychotherapie indiziert sein kann.

Dieser Reserviertheit von PsychotherapeutInnen gegenüber den Störungen der Geschlechtsidentität steht das oft große Leid der betroffenen Menschen gegenüber. Es gibt wahrscheinlich kaum einen vergleichbar radikalen Bruch in der Identität eines Menschen wie bei der Entwicklung einer Transsexualität. Der radikale Bruch in der Identität geht einher mit immensen innerpsychischen, interpersonellen und psychosozialen Folgen mit Anforderungen an die medizinische Versorgung, mit rechtlichen Probleme von der familiären Situation bis zur Änderung des Personenstandes. Ebenso belastend für die Lebensentwicklung ist die biologische und biografische „Mitgift” einer Intersexualität, die zwar deutlich von der transsexuellen Entwicklung zu unterscheiden ist, für die Betroffenen aber ebenso leidvoll sein kann.

Die Bewältigung einer transsexuellen Entwicklung oder einer Intersexualität stellt an die betroffenen Menschen sehr hohe Anforderungen und führt zwangsläufig zu erheblichen psychischen und psychosozialen Belastungen, die auch bei meist guter psychischer Gesundheit in manchen Fällen zu einer psychischen Erkrankung führen können. Diese komplizierten Lebenswege können auch scheitern.

Deshalb müssen wir zuallererst großen Respekt und Achtung vor diesen Menschen haben, die sich einem radikalen Wandel bzw. der Infragestellung ihrer Identität stellen und unsere Hilfe dabei suchen. Der Psychotherapie kommt in diesem Prozess eine zentrale Rolle zu. Mit diesem Heft möchten wir dazu beitragen, mit dem Vorurteil aufzuräumen, dass Psychotherapie mit transsexuellen und auch mit intersexuellen Menschen nur schwierig und unbefriedigend sei. Im Gegenteil: Die Beiträge sollen dazu ermutigen.

Um mit transsexuellen und mit intersexuellen Menschen zu arbeiten, bedarf es erst einmal guter Informationen über die klinischen Bilder. Diese Informationen wollen wir mit diesem Heft geben, wobei nicht nur psychologische oder psychotherapeutische Aspekte zur Darstellung kommen, sondern auch die relevanten medizinischen und rechtlichen Grundlagen. Zudem geben wir Hinweise, wo Informationen zur Transsexualität und zur Intersexualität im Internet und in der Literatur zu finden sind. Damit kann dieses Heft auch für Betroffene und für deren Angehörige eine Hilfe sein.

Es geht uns aber auch um eine grundsätzliche Haltung den Menschen mit einer Geschlechtsidentitätsstörung gegenüber. Es stellt sich nämlich die Frage, ob es sich bei vor allem dem transsexuellen Erleben um eine krankheitswertige psychische Störung handelt oder um psychische und psychosoziale Belastungen, die aus der Lebensnotwendigkeit des Geschlechtswandels resultieren. Im historischen Rückblick hat lange die Krankheitsauffassung dominiert, verbunden mit der irrigen Vorstellung, Transsexualität u. a. auch psychotherapeutisch „heilen”, d. h. beseitigen zu können. Wir vertreten die Auffassung, dass es notwendig ist, das transsexuelle Erleben zu entpsychopathologisieren und demgegenüber als besondere Lebensnotwendigkeit zu akzeptieren und zu respektieren. Wir sollten den betroffenen Menschen helfen und sie fördern, mit dieser Besonderheit mit sich selbst und in unserer Gesellschaft normal leben zu können.

Damit können wir unsere Ziele für dieses Heft benennen: Es geht uns darum, das Leserinteresse an der Transsexualität und der Intersexualität unter Aspekten der Psychotherapie zu wecken und dazu zu motivieren, sich mit Menschen mit einer Störung der Geschlechtsidentität psychotherapeutisch zu beschäftigen. Mit den Grundlagen, die Sie mit diesem Heft bekommen, werden Sie hoffentlich feststellen, dass es sich dabei um eine lohnende psychotherapeutische Aufgabe handelt.