Zusammenfassung
Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) definiert im deutschen
Gesundheitswesen, was von den Krankenkassen zu erstatten ist. Zur
Definition einer Vorschrift kann der G-BA u. a. Nutzenbewertungen
in Auftrag geben, die einen Überblick über die
wissenschaftliche Evidenz hinsichtlich Wirksamkeit und Nutzen einer
Intervention bieten. Diese Abhandlung beschreibt die operationale
Umsetzung der gesetzlichen Anforderungen im Hinblick auf die Nutzenbewertung
von Arzneimitteln. Manchmal werden diese Nutzenbewertungen als „isolierte
Nutzenbewertungen” bezeichnet, um sie von Nutzenbewertungen
im Rahmen einer vollen ökonomischen Bewertung (Kosten-Nutzen-Bewertung)
zu unterscheiden.
Der G-BA hat freie Wahl, an welches Institut er Bewertungsaufträge
vergibt. Bis heute wurde jedoch die Mehrheit der Aufträge
an das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit
im Gesundheitswesen (IQWiG) vergeben. Dennoch bezieht sich der Inhalt
dieses Papiers und der Begriff „Institut” auf
alle Institute, die mit solchen Bewertungen beauftragt werden können.
Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für Nutzenbewertungen
sind im Sozialgesetzbuch V, § 35b Abs. 1, § 139a
Abs. 4 bis 6 sowie § 139b Abs. 3 festgelegt. Hierin
wird ausgeführt, dass das Institut
-
einen hohen Transparenzgrad
gewährleisten muss,
-
für eine angemessene Beteiligung der maßgeblich
zu Beteiligenden bei der auftragsbezogenen Erstellung von Bewertungen
sowie für eine Gelegenheit zur Stellungnahme in allen wichtigen
Abschnitten des Bewertungsverfahrens zu sorgen hat,
-
regelmäßig über seine Arbeitsfortschritte
und -ergebnisse Bericht erstatten muss, und
-
den Auftrag an externe Sachverständige vergeben
muss.
Die gesetzlich geforderte hohe Verfahrenstransparenz soll das gesamte
Verfahren durch eindeutige Berichterstattung zu allen Verfahren
und Festlegungen während aller Phasen der Nutzenbewertung
erreicht werden. Die wichtigsten Mittel zur Verbesserung der Transparenz
sind wie folgt:
-
Realisierung eines unterstützenden
Scoping-Prozesses bei der Entwicklung der Forschungsfrage;
-
Trennung der Arbeit der externen Sachverständigen,
die die Evidenzbewertung vornehmen, von der des Instituts, welches die
Empfehlungen formuliert. Daher muss der von den externen Sachverständigen
erstellte Vorbericht veröffentlicht werden, und zwar separat
von allen nachfolgenden Änderungen oder Berichten (bzw.
Berichtsentwürfen) des Instituts, welche die Empfehlungen
des Instituts enthalten, und
-
Durchführung eines offenen Peer-Review-Verfahrens
durch Veröffentlichung der Stellungnahmen mit namentlicher
Nennung der Reviewer.
Auf der Grundlage der gesetzlichen Rahmenbedingungen muss das
Institut eine angemessene Beteiligung der maßgeblichen
Parteien ermöglichen. Hierzu gehören u. a.
die maßgeblichen Organisationen, die die Interessen von
Patienten vertreten, Sachverständige der medizinischen
und gesundheitsökonomischen Wissenschaft und Praxis, die
Berufsvertretungen von Apothekern und Arzneimittelherstellern sowie
Experten für alternative Behandlungsmethoden. Patienten
und Angehörige der Gesundheitsberufe ermöglichen
neue Einblicke hinsichtlich der Forschungsprioritäten,
Behandlungen und Outcomes.
Die maßgeblichen Parteien sollten ermittelt und kontaktiert werden,
sobald die wesentlichen Elemente des Bewertungsauftrages umrissen
worden sind. Danach sollten die maßgeblichen Parteien an
der Definition der Forschungsfrage, der Protokollentwicklung und
der Stellungnahme(n) zum Vorbericht beteiligt werden. Zur Beteiligung
der maßgeblichen Parteien an der Definition der Forschungsfrage
wird ein Scoping-Verfahren vorgeschlagen. Für die anderen
Phasen sollten schriftliche Stellungnahmen gefolgt von mündlichen
Diskussionen erfolgen. Zum Schluss sollte den maßgeblichen
Parteien das Recht eingeräumt werden, aus rechtlichen Gründen
Berufung („Appeal”) gegen die endgültige
Entscheidung einzulegen. All diese Schritte bedeuten keinerlei Einbußen
der wissenschaftlichen Unabhängigkeit des Instituts.
Aus
den maßgeblichen Abschnitten der gesetzlichen Rahmenbedingungen
im Hinblick auf die Bewertungsmethoden kann
gefolgert werden, dass
das Institut die Durchführung der Bewertung nach international
anerkannten Standards der evidenzbasierten Medizin (EbM) gewährleisten
muss,
-
die Bewertung im Vergleich mit anderen Arzneimitteln
und Behandlungsformen unter Berücksichtigung des zusätzlichen therapeutischen
Nutzens für die Patienten erfolgt,
-
der Kriterienkatalog zur Bewertung des Patientennutzens mindestens
die Verbesserung des Gesundheitszustands, die Verkürzung
der Krankheitsdauer, die Verlängerung der Lebensdauer,
die Verminderung von Nebenwirkungen und die Verbesserung der Lebensqualität
beinhaltet.
Evidenzbasierte Medizin bezieht sich auf die Anwendung der besten
verfügbaren Evidenz zur Beantwortung einer Forschungsfrage,
die Informationen zu Fragen der Patientenversorgung liefern kann.
Selbst bei Fragen der Wirksamkeit ist das optimale Studiendesign
nicht grundsätzlich die randomisierte kontrollierte Studie
(RCT), sondern hängt von der Forschungsfrage und den Outcomes
ab. Um die Transparenz für alle Fragestellungen zu erhöhen,
sollten die Evidenzlevel explizit angegeben werden. Es gibt keinerlei
empirische Evidenz, die eine Mindestzahl der zu berücksichtigenden
Studien vor Abgabe von Empfehlungen unterstützt. Um die
bestverfügbare Evidenz für Forschungsfragen zu
erhalten, sollte alle möglicherweise relevante Evidenz
berücksichtigt werden; es sollte also für jede
Fragestellung die bestverfügbare Evidenz herangezogen werden,
um die Frage zu beantworten. Gegebenenfalls müssen also
verschiedene Evidenzlevel für jedes Outcome berücksichtigt
werden.
Systematische Reviews können auf vielfältige
Weise einem Bias unterworfen sein. Manche Arten des Bias können
vermieden werden, während andere nur berichtet werden können.
In einigen Fällen kann der Einfluss des Bias untersucht
werden. Bei den Betrachtungen muss aufgezeigt werden, dass potenzielle Biasquellen
angemessen berücksichtigt wurden.
Die angewandten Methoden anderer Institutionen, die Nutzenbewertungen
durchführen, sind nützlich für die Interpretation des
Begriffs „internationale Standards”, denen das
Institut folgen muss. Das NICE ist ein gutes Beispiel in diesem
Zusammenhang. Das NICE zeigt, dass transparente Verfahren bei der
Nutzenbewertung möglich sind, dies jedoch eine ausführliche
Dokumentation erfordert. Das NICE hat ein offenes Verfahren für die
Stellungnahme von Gutachtern eingerichtet, das für Verfahrenstransparenz
sorgt. Obwohl das IQWiG in Deutschland um Stellungnahmen zu Protokoll
und Vorbericht bittet, diese auf seiner Website veröffentlicht
und seine Kommentare zu diesen Stellungnahmen veröffentlicht,
werden die Stellungnahmen letztlich dennoch nicht offen ausgewertet
und es bleibt daher ungewiss, ob diese Stellungnahmen zu Änderungen
in den Berichten führen oder nicht. Die Beteiligung der
maßgeblichen Parteien im NICE-Bewertungsprozess hingegen
gewährleistet ein Verfahren, das für alle relevanten
Beteiligten transparent ist.
Transparenz während des gesamten Verfahrens wird durch
klare Berichterstattung über Verfahren und Festlegungen
in allen Phasen der Nutzenbewertung gewährleistet. Im Rahmen
eines Scoping-Prozesses wird zu einem angedachten Projektumfang zunächst
schriftlich und dann in Form eines Scoping-Workshops Stellung genommen.
Auf diese Weise können alle relevanten Aspekte gehört
und im endgültigen Projektumfang berücksichtigt
werden. Danach wird der Berichtsplan erstellt („Protokoll”),
gefolgt von der Evidenzbewertung. Über die angewandten
Methoden sollte vollständig berichtet werden, um den Lesern
zu zeigen, dass die Bewertung wissenschaftlich korrekt durchgeführt
wurde und dass Bias, wo möglich, vermieden wurde. Die maßgeblichen
Parteien sollten die Möglichkeit haben, zum Protokollentwurf
und zum Vorbericht Stellung zu nehmen. Jede Stellungnahme sollte
dahingehend ausgewertet werden, ob sie zu Änderungen führen
wird, und sowohl die Stellungnahme als auch die Auswertung sollten
veröffentlicht werden, um die Transparenz dieses Prozesses
zu gewährleisten. Dasselbe Verfahren sollte für
die Peer-Review-Phase angewandt werden. Auf der Basis des Endberichts
der Evidenzbewertung erstellt das Institut Empfehlungen und der
G-BA stuft abschließend die Relevanz der Evidenz ein („Appraisal”).
Beim Verfassen des Endberichts sollte eine Trennung zwischen der
methodischen Evidenzbewertung („evidence assessment”) und
der Relevanzeinstufung der Evidenz („evidence appraisal”) realisiert
werden. Idealerweise sollte diese Trennung gesetzlich verfügt
werden, um jegliche Verwirrung im Hinblick auf Zuständigkeitskonflikte
zu vermeiden.
Ein solches Verfahren garantiert eine durchführbare
Kombination von gesetzlichen Anforderungen hinsichtlich der Transparenz
und Beteiligung von maßgeblichen Parteien mit internationalen
Standards evidenzbasierter Medizin, um zu gewährleisten,
dass die Nutzenbewertung von Arzneimitteln in Deutschland nach den
höchsten Standards erfolgt.
Summary
The Federal Joint Committee (FJC; Gemeinsamer Bundesausschuss,
G-BA) defines the health-care elements that are to be reimbursed
by sickness funds. To define a directive, the FJC can commission
benefit assessments, which provide an overview of the scientific
evidence regarding the efficacy and benefits of an intervention.
This paper describes the operational implementation of the legal
requirements with regard to the benefit assessments of medicines.
Such benefit assessments are sometimes referred to as „isolated
benefit assessments,” to distinguish them from benefit
assessments as part of a full economic evaluation.
The FJC has the freedom to commission these assessments from any
agency; however, to date the majority have commissioned the Institute
for Quality and Efficiency in Health Care (IQWiG). Nevertheless,
the content of this paper applies integrally to any institute commissioned
for such assessments. In this report, „the institute”'
is used when the text refers to any of these institutes.
The legal framework for benefit assessments is laid out in the German
Social Code Book version V (http://www. sozialgesetzbuch.de),
Sects. 35b (§ 1), 139a (§ 4-6) and Sect. 139b
(§ 3). It is specified that:
The institute must guarantee high transparency.
The institute must provide appropriate participation of relevant
parties for the commission-related development of assessments, and
opportunity for comment on all important segments of the assessment
procedure.
The institute has to report on the progress and results of the work
at regular intervals.
The institute is held to giving the commission to external experts.
Based on the legal framework, the institute must guarantee a high
procedural transparency. Transparency of the whole process should
be achieved, which is evidenced by clear reporting of procedures
and criteria in all phases undertaken in the benefit assessment.
The most important means of enhancing transparency are:
1. To implement a scoping process to support the development of
the research question.
2. To separate the work of the external experts performing the evidence
assessment from that of the institute formulating recommendations.
Therefore, the preliminary report as produced by external experts
needs to be public, and published separately from any subsequent
amendments or (draft-)reports made by the institute, which includes
the institute's recommendations.
3. To implement open peer review by publishing both the comments
of the reviewers and their names.
Based on the legal framework, the institute must provide for adequate
participation of relevant parties. These include organisations representing
the interests of patients; experts of medical, pharmaceutical and
health economic science and practice; the professional organisations
of pharmacists and pharmaceutical companies; and experts on alternative
therapies. Patients and health care professionals bring in new insights
with respect to research priorities, treatment and outcomes.
The relevant parties should be identified and contacted whenever
the global scope of the assessment has been drafted. Subsequently,
the relevant parties should be involved in defining the research
question, developing the protocol and commenting on the preliminary
report. To implement the involvement of relevant parties in defining
the research question a scoping process is suggested. For the other
phases, written comments followed by an oral discussion should be
used. Finally, the relevant parties should have the right to appeal
the final decision on judicial grounds. None of these steps mean
that the institute would lose any part of its scientific independence.
From the relevant sections of the legal framework with respect to
the assessment methods, it can be concluded that:
1. The institute must ensure that the assessment is made in accordance
with internationally recognised standards of evidence-based medicine
(EBM).
2. The assessment is conducted in comparison with other medicines
and treatment forms under consideration of the additional therapeutic
benefit for the patients.
3. The minimum criteria for assessing patient benefit are improvements
in the state of health, shortening the duration of illness, extension
of the duration of life, reduction of side effects and improvements
in quality of life.
EBM refers to the application of the best available evidence to
answer a research question, which can inform questions about the care
of patients. The optimal design, even for effectiveness questions,
is not always the randomised, controlled trial (RCT) but depends
on the research question and the outcomes of interest. To increase
transparency for each question, the levels of evidence examined
should be made explicit. There is no empirical evidence to support
the use of cutoff points with respect to the number of studies before
making recommendations. To get the best available evidence for the
research question(s), all relevant evidence should be considered
for each question, and the best available evidence should be used
to answer the question. Separate levels of evidence may have to
be used for each outcome.
There are many ways in which bias can be introduced in systematic
reviews. Some types of bias can be prevented, other types can only
be reported and, for some, the influence of the bias can be investigated.
Reviews must show that potential sources of bias have been dealt
with adequately.
Methods used by other agencies that perform benefit assessments
are useful to interpret the term 'international standards' to which
the institute must comply. The National Institute for Health and
Clinical Excellence (NICE) is a good example in this respect. NICE
shows that it is possible to have transparent procedures for benefit
assessments but that this requires detailed documentation. NICE
has implemented an open procedure with respect to the comments of
reviewers, which makes the procedure transparent. Although the Institute
for Quality and Efficiency in Health Care (IQWiG) in Germany invites
comments on their protocol and preliminary report by posting them
on their website, and comments are made public, the individual comments
are not evaluated openly, and therefore it remains uncertain whether
or not they lead to changes in the reports. The participation of
relevant parties in the assessment process as implemented by NICE guarantees
a process that is transparent to all relevant parties.
Transparency of the whole process is assured by clear reporting of
procedures and criteria in all phases undertaken in the benefit
assessment. In a scoping process, a draft scope is commented on
first in writing and subsequently in the form of a scoping workshop.
In this way, all relevant aspects can be heard and included in the
final scope. The protocol is then developed, followed by evidence
assessment. The methods used should be completely reported to show
readers that the assessment has been performed with scientific rigour
and that bias has been prevented where possible. All relevant parties
should have the opportunity to comment on the draft protocol and
the draft preliminary report. Each comment should be evaluated as
to whether or not it will lead to changes, and both the comments and
the evaluation should be made public to ensure transparency of this
process. The same procedure should be used for the peer-review phase.
Based on the final report of the evidence assessment, the institute
forms recommendations and the FJC appraises the evidence.
During the writing of the final report, a separation between the evidence
assessment and the evidenceappraisal phase should be implemented.
Ideally, this separation should be legally enforced to prevent any
confusion about conflict of interests.
Such a process guarantees a feasible combination of the legal requirements
for transparency and involvement of relevant parties with international
standards of EBM to ensure that the benefit assessments of medicines
in Germany are performed according to the highest standards.
Schlüsselwörter
Nutzenbewertung - Evidenzbasierte Medizin - IQWiG - NICE - G-BA - Scoping-Prozess
Keywords
Benefit assessment - Evidence-based medicine - IQWiG - NICE - Federal Joint Committee
(G-BA) - Scoping-process