physioscience 2009; 5(1): 1-2
DOI: 10.1055/s-0028-1109153
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Physiotherapy Extended Scope Practice – erweiterter Aufgabenbereich für Physiotherapeuten

B. Tampin
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Publication Date:
19 February 2009 (online)

Während der letzten Jahre riefen in einigen Ländern der Welt zahlreiche Faktoren (überwiegend politische und ökonomische) Änderungen der Aufgaben des Gesundheitswesens und der Methoden der Gesundheitsversorgung hervor. Ein Resultat davon ist, dass Physiotherapeuten größere und unterschiedlichere Rollen und Verantwortungen in der Gesundheitsversorgung übernehmen und viele sowohl in privaten als auch öffentlichen Bereichen des Gesundheitswesens als „Spezialisten“ oder Fachpersonen fungieren.

In England führte die Einführung des New Deal European Working Time Directive [2] z. B. dazu, dass die Arbeitsstundenzahl für junge Mediziner reduziert und somit traditionellerweise von Ärzten durchgeführte Aufgabenbereiche auf nicht ärztliche bzw. andere Gesundheitsfachberufe übertragen wurden. Weitere politische Dokumente gaben die Richtung für flexiblere Arbeitsbedingungen und eine Umstrukturierung der Arbeitskräfte an. Als Folge entstanden in verschiedenen Berufssparten die Nurse practitioners, Extended scope practitioners (ESP) und Consultant practitioners [4]. Speziell in der Physiotherapie wurde die Rolle der ESP aufgenommen. Diese schließt sowohl die Ausweitung der Diagnostik (Anforderung als auch Interpretation diagnostischer Tests wie CT-Scans, Röntgenbilder und Bluttests) als auch der Behandlung (invasive Techniken wie Gelenkinjektionen oder -aspirationen, Gipsverbände, begrenzte Verordnung von Medikamenten) und der praktischen Konsultationen ein.

Allgemein betrachtet, ist die Definition der ESP nicht ganz klar. Was gehört zum normalen Scope of practice (normaler Aufgabenbereich) und welche Aufgaben umfassen den Extended scope of practice (erweiterter Aufgabenbereich)? Wann gilt man als klinischer Spezialist? In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass in Australien nur Physiotherapeuten den Titel klinischer Spezialist tragen dürfen, die die Spezialistenausbildung der Australian Physiotherapy Association absolviert haben [3]. Andererseits wird aber auch anerkannt, dass Therapeuten ohne die formelle Spezialistenausbildung womöglich erweiterte Aufgabengebiete übernehmen.

Ein Bericht des Centre for Allied Health Evidence an der University of South Australia [8] schlägt folgende Definition vor:

„An ESP physiotherapist is a clinical specialist or expert clinician who has the opportunity to develop and demonstrate expertise beyond the currently recognised scope of practice, including some aspect of job enhancement or expansion, involving the areas of extended therapeutics“ (Ein ESP-Physiotherapeut ist ein klinischer Spezialist oder Experte, der die Möglichkeit hat, seine Sachkenntnis über den derzeitig anerkannten Aufgabenbereich hinaus zu entwickeln und zu demonstrieren, einschließlich einiger Aspekte der Jobförderung oder -erweiterung, die auch die Bereiche der erweiterten Behandlung umfassen.)

Die meisten in der Peer-reviewed Literatur dargestellten Aufgabengebiete betreffen den muskuloskelettalen Bereich. Zum einen sind Physiotherapeuten in orthopädischen Kliniken angestellt, um die Warteliste besonders der von Knie-, Rücken- und Schulterbeschwerden betroffenen Patienten zu reduzieren, zum anderen werden sie in Notfallambulanzen zur Untersuchung und Behandlung von Patienten mit akuten muskuloskelettalen Verletzungen eingesetzt [5].

Das Centre for Allied Health Evidence führte national und international eine Literaturrecherche über Extended scope of physiotherapy practice durch, dessen vorläufiger Bericht auf der Website einsehbar ist [8]. Zwar stammt die Mehrheit der Peer-reviewed Literatur über ESP-Maßnahmen aus England, es gibt aber auch Artikel aus Australien und den USA. Allgemein kann man sagen, dass die Literatur die Entwicklung und Einführung der ESP-Rolle in der Physiotherapie unterstützt, jedoch ist vieles anekdotisch und mangelt an Quantifikation. Es besteht ausreichend Evidenz, dass die Einführung von ESP wesentliche organisatorische Vorteile bietet, wie z. B. die Verkürzung der Wartezeit. Außerdem ist auch nachgewiesen, dass Physiotherapeuten akkurate diagnostische Fähigkeiten besitzen [1], was einen wichtigen Faktor für die Patientensicherheit darstellt. Dagegen liegt bisher wenig Evidenz vor, dass die ESP-Initiative letztendlich das klinische Ergebnis verbessert. Diesbezüglich bedarf es weiterer detaillierter Studienuntersuchungen.

Wie sieht nun die ESP-Rolle in den deutschsprachigen Ländern aus? Kürzlich meldete die Bundesärztekammer in Berlin (Meldung Nr. 6810 vom 1.11.2008):

„Im Interesse der Patienten – keine neue Versorgungsebene. Delegation ja, Substitution nein. Arztvorbehalt, Facharztstandard, Einheitlichkeit der Heilkundeausübung. Darin wurde erklärt, dass die Kammer wohl eine stärkere Einbeziehung der Gesundheitsfachberufe‘ in die Patientenversorgung unterstütze, aber die Einheitlichkeit der Heilkundeausübung müsste gewahrt bleiben. Gewisse Leistungen stehen, gemäß den Richtlinien von BAK und KBV, ausschließlich unter ärztlicher Hoheit: Anamnese, Indikationsstellung, Untersuchung des Patienten einschließlich invasiver diagnostischer Leistungen, Stellen der Diagnose, Aufklärung und Beratung des Patienten, Entscheidung über die Therapie und Durchführung invasiver Therapien einschließlich der Kernleistungen operativer Eingriffe.“

Dies stellt bereits die 1. Hürde dar: Wenn entsprechende Leistungen wie Anamnese, Untersuchung, Diagnosestellung, Aufklärung und Beratung des Patienten nur von Ärzten durchgeführt werden dürfen, kann sich eine ESP-Initiative gar nicht entwickeln. Ich frage mich weiter, ob der Ärztekammer denn nicht bewusst ist, dass diese Leistungen auch Grundbestandteile eines physiotherapeutischen Patienten-Managements sind. Ohne Befundaufnahme ist keine gezielte und effektive Therapie möglich. Aufklärung und Beratung sind ebenso wesentliche Bestandteile der Therapie. Man nehme als Beispiel nur die Behandlung chronischer Schmerzpatienten: Es besteht klare Evidenz, dass Schmerzwahrnehmungen und z. B. Fear-avoidance-Verhalten durch Aufklärung über Schmerzphysiologie beeinflusst werden können [6] [7], und Physiotherapeuten können die Aufklärung bestens in ihre Behandlung integrieren.

Selbstverständlich besitzen Physiotherapeuten nicht die gleiche Qualifikation wie Ärzte und können diese in vielerlei Hinsicht nicht ersetzen. Dies ist nicht zu bestreiten, schließlich handelt es sich um 2 eigenständige Berufe mit unterschiedlicher Ausbildung. Dennoch wird meines Erachtens die Arbeit bzw. das Potenzial von Physiotherapeuten unterschätzt. Ich erhoffe mir, dass in naher Zukunft auch in Deutschland die Qualifikation der Physiotherapeuten stärker anerkannt wird und eine bessere Kooperation zwischen allen Gesundheitsberufen stattfinden kann. Dazu muss sich selbstverständlich unser Berufsstand ständig dafür einsetzen, mehr Evidenz für unser Können und unsere Effektivität zu liefern bzw. beides auch zu publizieren.

Literatur

  • 1 Daker-White G, Carr A J, Harvey I. et al . A randomised controlled trial. Shifting boundaries of doctors and physiotherapists in orthopaedic outpatient departments.  J Epidemiol Community Health. 1999;  53 643-650
  • 2 Department of Health .A compendium of solutions to implementing the Working Time Directive for doctors in training from August 2004. London; Department of Health 2004
  • 3 Jull G, Moore A. Editorial: Specialisation in musculoskeletal physiotherapy – the Australian model.  Manual Therapy. 2008;  13 181-182
  • 4 Kersten P, McPherson K, George S. et al . Physiotherapy extended scope of practice – who is doing what and why?.  Physiotherapy. 2007;  9 235-242
  • 5 Lau M YL, Chow D HK, Pope M H. Early physiotherapy intervention in an accident and emergency department reduces pain and improves satisfaction for patients with acute low back pain: a randomized trial.  Australian Journal of Physiotherapy. 2008;  54 243-249
  • 6 Mosley G L. Evidence for a direct relationship between cognitive and physical change during an education intervention in people with chronic low back pain.  European Journal of Pain. 2004;  8 39-45
  • 7 Mosley G L, Nicholas M K, Hodges P W. A randomized controlled trial of intensive neurophysiology education in chronic low back pain.  Clinical Journal of Pain. 2004;  20 324-330
  • 8 The Centre for Allied Health Evidence (CAHE) .www.unisa.edu.au/cahe

Brigitte Tampin

Grad. Dip. Manip. Ther. MSc

Unit 3, 15 Parry Street

Fremantle W. A. 6160

Australien

Email: bvdh@iinet.net.au

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