physioscience 2009; 5(2): 45-46
DOI: 10.1055/s-0028-1109435
Gasteditorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„High Potentials” – Zum (in)effektiven Einsatz studierter Physiotherapeuten für die Professionalisierung der Physiotherapie

H. Höppner1
  • 1Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit, FH Kiel
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Publication Date:
18 May 2009 (online)

„Akademiker sind begehrt – Arbeitsmarkt für Akademiker in Deutschland” lautete die Titelzeile der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) am 20./ 21.09.2008. Die Auswertung von Stellenausschreibungen in Printmedien zeigte neue Arbeitsfelder im Gesundheitswesen. Weiter im Text: „Die Einsatzgebiete der Gesuchten sind breit gestreut: Ein Viertel der Aufgaben entfällt auf den Bereich Gesundheit, Forschung und Lehre.” Gute Voraussetzungen also, die Anstrengungen um ein breites und gutes Angebot an Studienplätzen für die Physiotherapie in Deutschland fortzusetzen und auf Absolventen zu bauen. Warum also meine kritische Frage, die an der Effektivität des Umgangs mit unseren High Potentials möglicherweise Zweifel erkennen lässt? Wie ist deren Beitrag für die Professionalisierung der Physiotherapie bislang zu werten? Sehen die Betroffenen diese Aufgabe eigentlich selbst – und wenn ja, haben sie die Bedingungen, die sie brauchen, ihre Potenziale auch entwickeln zu können? Wir haben lange auf die Absolventen und Absolventen der ersten Studiengänge Physiotherapie in Deutschland gewartet. Scherfer hieß sie 2003 in seinem Beitrag treffend willkommen: „Was ist eigentlich ein Bachelor – und warum heißen wir Sie herzlich willkommen?” [3]. Das war vor gut 5 Jahren. Seit 2002 verlassen Bachelor-Absolventen nun erfreulicherweise regelmäßig deutsche Hochschulen und seit 2005 auch Master-Absolventen. Schätzungsweise 1 – 2 % der ca. 80 000 Berufsangehörigen der Physiotherapie sind aktuell akademisch ausgebildet. Die Etablierung der Studiengänge zeigte in den letzten 8 Jahren dynamische Tendenz. Mit einem weiteren kontinuierlichen Anstieg studierter Physiotherapeuten an der Gesamtberufsgruppe kann also gerechnet werden. Für alle merkbar ist: Die Absolventen verändern die Physiotherapieszene in Deutschland, z. B. durch ihre Beiträge in Fachzeitschriften, ihre Präsenz auf Tagungen und Kongressen oder gegebenenfalls auch im konkreten Praxis- oder Stationsalltag. Doch reicht das aus? Können wir uns mit diesem Resultat zufriedengeben? Sind wir auf dem richtigen Weg und die Anzahl und Zeit werden es schon richten? Da einen bekanntlich im Wesentlichen ja Fragen und weniger gleich eine Antwort weiterbringen, möchte ich die Chance dieses Gasteditorials nutzen, und meine Überlegungen und Fragen als Professorin seit Beginn der Etablierung von Studiengängen Deutschland dazu äußern. Was wissen wir und was können wir zum jetzigen Zeitpunkt über die Karrieren der Absolventen wissen sowie aus vorliegenden Ergebnissen wirklich rückschließen? Wie münden die Absolventen konkret in die Arbeitswelt ein und können sie dort „das Neue” auch zum Einsatz bringen? Was ist das Mehr in der Physiotherapie durch die Studierten. Kurz: Lassen sich auch im konkreten Arbeitsalltag Professionalisierungstendenzen erkennen? Besonders liegt mir jedoch folgende Frage am Herzen: Geht die These meines Kommentars für den GEK-Report 2007 Die Akademisierung der Gesundheitsfachberufe – Ein Beitrag zur Qualitätssicherung und Effektivitätssteigerung gesundheitlicher Versorgung in Deutschland [1] wirklich auf? Auf das Ergebnis solcher Untersuchungen werden wir warten müssen. Gerade den Effekt dieser Intervention in der Strukturqualität (veränderte Ausbildung von Therapeuten) in Outcome- oder Output-Variablen in der Versorgungsforschung abzubilden, ist ein anspruchsvolles, jedoch meines Erachtens lohnenswertes Unterfangen. Es wird keine öffentliche Legitimation der Akademisierung geben, wenn nicht Effekte für die Gesundheitsversorgung nachweisbar sind. Als „teilnehmende Beobachterin” erlaube ich mir also den Akademisierungsprozess zum Zwecke der Professionalisierung mit besonderem Akzent auf die Nutzung der Ressource Absolventen zu kommentieren und auf Probleme hinweisen. Bisher gibt es meines Wissens keine Ergebnisse breit angelegter und aussagekräftiger Untersuchungen über die Absolventen der Studienprogramme für Gesundheitsfachberufe (Physio-, Ergotherapie, Logopädie) in Deutschland. Der Hochschulverbund wird sich dieser Aufgabe in absehbarer Zeit stellen. Einzelne Ergebnisse der Absolventenbefragungen sind aufgrund der Studienmodelle noch stark verzerrt: Ob jemand mit 23 Jahren in einem dualen Modell seinen Bachelor-Degree erwirbt oder im Alter von Mitte 30, d. h. nach einer Ausbildung und Berufserfahrung, einen 6-semestrigen Studiengang anschließt, sind völlig unterschiedliche Ausgangsvoraussetzungen. Wenn ich im Folgenden die Situation von Absolventen skizziere, geschieht dies ohne Anspruch auf die Güte statistischer Daten. Die Einschätzung beruht auf Ergebnissen der Absolventenbefragungen meiner und anderer Hochschulen. Vor allem handelt es sich jedoch um Begegnungen mit Arbeitgebern und Absolventen in ganz unterschiedlichen Kontexten, wie z. B. ZiPT (Zukunftsinitiative Physiotherapie), HVG (Hochschulverband Gesundheitsfachberufe) oder die Erfahrungen eines Workshops im letzten Jahr, die mich zu den Überlegungen angeregt haben. In Kooperation mit dem IFK (Bundesverband selbstständiger Physiotherapeuten) und dem Engagement einer Absolventin (!) wurde eine Veranstaltung in Bochum angeboten. 12 problembewusste Kollegen (8 Frauen und 4 Männer, im Mittel 28 – 29 Jahre alt, die ein Studienprogramm im In- und Ausland absolvierten oder noch in Bachelor- oder Master-Programmen und auf einige Jahre Berufserfahrung zurückblickten. Allen gemeinsam war die Suche nach Orientierung in ihrer beruflichen Situation) folgten der Einladung zum Workshop Wohin des Weges? Orientierung für Physiotherapeuten mit Hochschulabschluss. Aufgrund meiner dargelegten Perspektive lässt sich offenbar Folgendes konstatieren:

Studierte Physiotherapeuten sind auf dem Arbeitsmarkt sehr gut vermittelbar. Der Bedarf an ihren Kompetenzen in der Praxis ist groß, die Passung von Anspruch und Einlösung teilweise nicht gegeben. Die Erwartungen der Praxis sind überzogen, z. B. hinsichtlich der Kompetenz zu wissenschaftlichem Arbeiten. Außerdem wird zum Teil unterschätzt, dass die Studierenden zwar viel gelernt haben, jetzt jedoch auch den Raum brauchen, dieses anwenden zu können. Es geht um adäquaten Einsatz der Absolventen, wie z. B. die Tatsache von Trainee- und Mentoring-Programmen in anderen Branchen zeigen. Die Honorierung der Absolventen ist nach wie vor unbefriedigend, sie werden in der Regel nicht anders vergütet als ohne Hochschulabschluss. Zahlreiche mutige und brillierende Absolventen trifft man z. B. auf Kongressen, erobern in Betrieben oder Verlagen neue Arbeitswelten, grüßen aus einem nationalen oder internationalen Master-Studium oder stecken gar schon in Promotionsprojekten. Es gibt einen großen Bedarf an Orientierung bereits im Studium und auch im Anschluss daran. Die Absolventen weisen ein hohes Frustrationspotenzial auf, sodass sie sich resigniert in die ihnen vom Arbeitsfeld zugewiesen Rolle zurückziehen. In der Arbeitswelt besteht die Tendenz zur „EinNordung der Neuen”.

Diese Form nenne ich die „EinNordung” der Bachelor. Dabei handelt es sich um ein sozialpsychologisch nachvollziehbares Phänomen: die Kollegen am Berufsanfang möchten dazugehören (in therapeutischen Teams ist dies ein wichtiges Merkmal der Sinnstiftung). Will man sozial nicht ausgegrenzt werden, befindet man sich in einer marginalen Rolle (als „Studierte”) aufgefordert, die Verschiedenheit nicht deutlich werden zu lassen und sich zu assimilieren. Dies ist menschlich und nachvollziehbar, doch für die aktuelle Phase der Professionalisierung durch und mit unseren High Potentials fatal. Individuell werden die eigenen Möglichkeiten im Moment „unterschlagen” und dem Bedürfnis nach Dazugehörigkeit geopfert. Die Frage ist zudem, ob dies über längere Zeit auszuhalten ist. Bei Erreichen eines bestimmten Leidensdrucks besteht der konsequente Schritt möglicherweise darin, die Physiotherapie ganz zu verlassen. Für qualitativ Forschende ist das folgende Zitat einer Master-Absolventin, die die Chance hatte, an einem 2-jährigen Trainee-Programm teilzunehmen, sehr aufschlussreich. Auf die Frage, was ihr das Programm gebracht habe, antwortete sie: „Dass meine Scheuklappen, die ich durch das Studium abgebaut hatte, […] dass die nicht wieder nachgewachsen sind. Das macht mich zufrieden” [2]. Auch das Zitat einer Workshop-Teilnehmerin gibt einen Hinweis darauf, dass das Anlegen von „Scheuklappen” für das Überleben von Absolventen offenbar geboten ist. Sie antworte auf die Frage, welche Möglichkeiten ihr der Workshop aufgezeigt habe: „Ich weiß nicht, ob ich mich anstrengen soll” oder „Es ist gar nicht so leicht ein Bachelor zu sein”. Ja, es hat offenbar etwas mit Mühe und Anstrengung zu tun. Dennoch gilt der Willkommensgruß weiter. Die deutsche Physiotherapie braucht euch dringend, und zwar möglichst schnell viele gut ausgebildete Absolventen von Hochschulen. Ihr seid die Ressource für einen Professionalisierungsschub, die die Physiotherapie im Wettbewerb mit anderen Anbietern von Gesundheitsdienstleistungen unbedingt braucht. Wer trägt Verantwortung dafür, dass diese knappe Ressource optimal genutzt wird? Antwort: alle gemeinsam:

Die Hochschulen, die für die Qualität der Ausbildung verantwortlich sind und durch Arbeit an der Identität bereits im Studium für Entlastung sorgen können. Wir brauchen Alumni-Arbeit an den Hochschulen, damit das Interesse an Absolventen deutlich wird und sie Anerkennung erfahren. Physiotherapeuten mit Personalverantwortung, die ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen entsprechende Stellen für Akademiker ausschreiben und auf eine angemessene Honorierung hinwirken. Personalverantwortlichen obliegt zudem die Aufmerksamkeit für die Marginalität dieser studierten Kollegen. Hier sind eine deutliche anwaltschaftliche Positionierung, eine angemessene Erwartung an die Studierten und professionelles Führungsverhalten gefragt. Die Berufsverbände, die den Resolutionen Taten folgen lassen, indem sie konsequent die Akademisierung in Deutschland unterstützen (3 von 4 Berufsverbänden sind assoziierte Mitglieder im HVG!), auch auf Landesebene. Stellen Sie sich vor, jeder Funktionär würde aus Solidarität einen Bachelor einstellen! Den Berufsverbänden kommt zudem politisch die Aufgabe zu, die Akademisierung in nationale Diskussionen einzubringen. Berufsfachschulen sollten konsequent Bachelor- und möglichst Master-Absolventen beschäftigen. Der Hinweis auf die fehlende pädagogische Eignung beim Verwehren des Eintritts ist dabei – gemessen an den Einstellungsmodalitäten der Vergangenheit – eine etwas schwache Entschuldigung. Dies meint nicht die Länder, in denen die pädagogische Eignung ein Muss ist. Selbstverständlich kann die Gruppe der Absolventen nicht darauf warten, dass alles für sie bereitet ist, denn dann wären wir wieder beim viel zitierten „Dornröschenphänomen” angelangt. Zahlreiche Bachelor- und Master-Absolventen machen es vor: Sie trauen sich, sie arbeiten weiter an sich, sie bieten sich an und vernetzen sich untereinander. Das hilft, Informationen zu erhalten und zudem dem Gefühl entgegenzuwirken, in dieser Situation allein zu sein. Die Absolventen sollten sich in politische Arbeit z. B. in Verbänden und Initiativen einmischen.

Fazit: Allein die Anzahl von Absolventen ist kein Garant für ihren effektiven Einsatz im Sinne einer notwendigen Professionalisierung des Berufes. Will die aktuelle Chance der Professionalisierung durch Akademisierung genutzt werden, bedarf es hierzu konzentrierter und gemeinsamer Anstrengungen – und zwar jetzt!

Literatur

  • 1 Höppner H. Akademisierung der Gesundheitsfachberufe. Ein Beitrag zur Qualitätssicherung und Effektivitätssteigerung gesundheitlicher Versorgung in Deutschland. GEK-Heil- und Hilfsmittelreport 2007. GEK – Gmünder ErsatzKasse Schriftenreihe zur Gesundheitsanalyse St. Augustin; Asgard 2007 Bd. 57
  • 2 Höppner H. Hier habe ich jetzt meinen Platz gefunden. Im Gespräch: Ruth Hoffrichter.  pt – Zeitschrift für Physiotherapeuten. 2009;  61 36-37
  • 3 Scherfer E. Was ist eigentlich ein Bachelor?.  Und warum wir die „Bachelors” herzlich willkommen heißen! Krankengymnastik – Zeitschrift für Physiotherapeuten. 2003;  12 2165-2172

Prof. Dr. rer. pol. Heidi Höppner. PT, M. P.H, Dipl.-Sozialwirtin, Vorstandsvorsitzende Hochschulverbund Gesundheitsfachberufe/ HVG e. V.

Fachhochschule Kiel, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit

Email: heidi.hoeppner@fh-kiel.de

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