Z Gastroenterol 2009; 47(6): 529-530
DOI: 10.1055/s-0028-1109530
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Versorgungsrealität und Versorgungspfade bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (Morbus Crohn und Colitis ulcerosa)

The State of Health Care and Health Care Paths in Inflammatory Bowel Disease (Crohn’s Disease and Ulcerative Colitis)J. C. Preiß1 , I. Blumenstein2 , S. Zeuzem2 , M. Zeitz1
  • 1Medizinische Klinik I, Campus Benjamin Franklin, Charité – Universitätsmedizin Berlin
  • 2Medizinische Klinik I, Klinikum der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main
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Publication Date:
16 June 2009 (online)

In der vorliegenden Ausgabe der Zeitschrift für Gastroenterologie wird ein Versorgungsmodell für Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (CED) vorgestellt, welches innerhalb eines Projekts des vom BMBF geförderten Kompetenznetzes chronisch entzündliche Darmerkrankungen erarbeitet wurde [1]. In dem Projekt werden Empfehlungen zur strukturierten, an den Verlauf angepassten Versorgung von Patienten mit CED vorgeschlagen. Die Formulierung solcher Versorgungspfade ist auf Basis der zunehmenden Komplexität der Diagnostik und Therapie der CED wissenschaftlich, klinisch und aus Patientensicht klar nachvollziehbar und notwendig.

Das von H. Raspe und seiner Arbeitsgruppe am Lübecker Institut für Sozialmedizin vorgestellte Konzept stellt einen neuen Ansatz dar, der sich teilweise an dem Programm der Nationalen Versorgungsleitlinien von KBV und AWMF orientiert [1]. In ihrer Arbeit zu Versorgungspfaden in der Behandlung von Patientinnen und Patienten mit Morbus Crohn/Colitis ulcerosa setzen sie da an, wo die klinischen Leitlinien der DGVS zur Diagnostik und Therapie dieser Erkrankungen aufhören. Zunächst haben sie über die in den Leitlinien thematisierten Fragestellungen hinaus systematisch alle körperlichen, psychischen und sozialen Probleme erfasst, mit denen CED-Patienten konfrontiert werden. Für jedes dieser Felder schlagen sie bestimmte Berufsgruppen, Leistungen oder andere Zugänge vor, um dem Problem angemessen zu begegnen. Für Gastroenterologen besonders interessant dürfte der Teil sein, in dem Empfehlungen entwickelt wurden, in wessen Händen die Koordination der Versorgung von CED-Kranken liegen sollte. Die vorgestellten Versorgungspfade definieren je nach Schwere des Krankheitsbilds und Komplexität der therapeutischen Strategien eine abgestufte Versorgungskoordination durch den Hausarzt (1. Ebene), durch eine gastroenterologische Fachpraxis/Ambulanz (2. Ebene; je nach regionalen Gegebenheiten auch endoskopierende internistisch-hausärztliche oder chirurgische Praxen) oder direkt durch eine CED-Schwerpunktpraxis oder CED-Ambulanz (3. Ebene). Während in der zweiten Versorgungsebene all die Patienten behandelt werden sollen, die eine einfache Immunsuppression benötigen, sollen alle Patienten mit einem schweren Verlauf oder mit einer komplexen immunsuppressiven Therapie in der dritten Versorgungsebene betreut werden. Innerhalb jeder Ebene soll den Patienten einmal jährlich eine konsiliarische Vorstellung in der jeweils höheren Versorgungsebene angeboten werden. Noch wurden in diesem Projekt keine versorgungswissenschaftlichen Daten generiert, die die Validität des Modells unter Beweis stellen.

Aktuelle Daten aus der Versorgungsforschung bei CED-Patienten zeigen eindrücklich, dass bei zahlreichen Patienten momentan keineswegs eine leitliniengerechte Therapie durchgeführt wird. Bei einer Umfrage unter knapp 2000 CED-Patienten, die bei der AOK oder TK in Berlin und Hamburg versichert sind, hatte sich gezeigt, dass nur etwa die Hälfte aller Patienten gemessen an ihrem bisherigen Krankheitsverlauf und der derzeitigen Aktivität leitliniengerecht mit Mesalazin oder Immunsuppressiva behandelt wird. Ein beträchtlicher Teil der Patienten erhält eine Dauertherapie mit Glukokortikoiden. Bei dieser Untersuchung zeigte sich auch, dass die Patienten mit schwereren Verläufen nicht häufiger bei fachärztlichen Gastroenterologen in Behandlung sind [2]. Eine Untersuchung bei über 1000 Patienten aus dem Rhein-Main-Gebiet zeigte, dass die Therapie zunächst selbst in gastroenterologischen Schwerpunktpraxen unabhängig von der Krankheitsaktivität sowohl bei Patienten mit Morbus Crohn als auch bei Patienten mit Colitis ulcerosa weitgehend aus Kortikosteroiden und Aminosalizylaten bestand, während Immunsuppressiva lediglich eine untergeordnete Rolle spielten [3]. Erst nach Aufbau einer engen Vernetzungsstruktur zwischen den niedergelassenen Praxen einerseits, aber auch zwischen den Praxen und Klinikambulanzen mit Schwerpunkt CED sowie der Zusammenarbeit im Rahmen einer integrierten Versorgung konnte hier eine leitliniengerechte Therapie bei CED-Patienten etabliert werden. Erste, noch unveröffentlichte Daten der Arbeitsgruppe Rhein-Main untermauern nun, dass eine Verschiebung der hausärztlichen Versorgung in eine gastroenterologisch-fachärztliche Betreuung im Rahmen eines integrierten Versorgungskonzepts die Versorgung der Patienten verbessert und die Zahl stationärer Aufnahmen reduziert.

Diese Daten decken sich mit internationalen Erfahrungen, die einzelne Teilaspekte der Versorgung von CED-Patienten beleuchteten und die Notwendigkeit von Verbesserungen dokumentierten [4] [5] [6] [7].

Ähnliche Versorgungsdefizite konnten z. B. auch für die Behandlung der Hepatitis C nachgewiesen werden [8].

Gerade in der dritten Versorgungsebene der CED-Schwerpunktpraxen und -Ambulanzen wird der Gedanke eines Netzwerks in den Vordergrund gestellt, in dem interdisziplinär Therapiemodalitäten erarbeitet werden. So sind zum Beispiel komplexe immunsuppressive Therapiestrategien mit möglichen Komplikationen wie opportunistischen Infektionen oder Malignomentwicklung verbunden. Vorbeugende Maßnahmen wie Impfungen oder prophylaktische Antibiotikagaben werden immer bedeutungsvoller. Die Einbeziehung von benachbarten Fachdisziplinen wie Infektiologie oder Rheumatologie in die Versorgungskonzepte ist daher sicher sinnvoll, ein Aspekt, der in den vorliegenden Versorgungspfaden bisher nur am Rande formuliert ist. Hier könnten Zentren zukunftsweisend sein, die sich der Betreuung von Patienten mit chronisch inflammatorischen Erkrankungen unabhängig von der primären Organmanifestation widmen. Darüber hinaus erscheint eine Behandlung von Patientinnen und Patienten mit Morbus Crohn/Colitis ulcerosa im Rahmen einer integrierten Versorgung attraktiv, da hier eine enge Vernetzung von niedergelassenen und in der Klinik tätigen Gastroenterologen einen Beitrag zu einer effizienten, erfolgreichen und für den Patienten zufriedenstellenden Therapie leisten kann.

Das Konzept einer abgestuften Versorgung und die Etablierung von krankheitsbezogenen Zentren berührt einen kritischen Punkt innerhalb der Gastroenterologie: die Diskrepanz zwischen der Breite unseres Faches und der inhaltlich notwendigen Subspezialisierung. Die Versorgung von Patienten mit speziellen Krankheitsbildern erfordert auf Basis der raschen wissenschaftlichen Weiterentwicklung Fähigkeiten und Fertigkeiten, die über das Tätigkeitsfeld von Hausärzten, aber auch vieler Gastroenterologen hinaus gehen können. Dies bringt die Notwendigkeit einer Subspezialisierung mit sich, die zumindest partiell im Widerspruch zu einer umfassenden gastroenterologisch/hepatologischen Ausbildung steht. Hier stellt sich die Frage, wie in Zukunft unsere Aus- und Weiterbildung zu gestalten ist und welche strukturellen Auswirkungen hieraus folgen. Es kann sicher nicht das Ziel sein, das Fach Gastroenterologie in Subspezialitäten zu unterteilen. Gleichzeitig wird es aber eine zentrale Aufgabe unserer wissenschaftlichen Fachgesellschaft sein, Strukturen mitzuentwickeln, die den Patienten einer dem Wissensstand angemessenen, qualitätsgerechten Behandlung zuführen. Fortbildungsmodule, die den Kenntnisstand in den Subdisziplinen vermitteln, sind hier ein erster Weg, der bereits erfolgreich eingeschlagen wurde.

Zusammenfassend liegt es nahe, dass in der Versorgung von Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen ein abgestuftes Konzept sinnvoll ist, bei dem alle Patienten mit schweren Verläufen an spezialisierte Zentren weitergeleitet werden, interaktive Netzwerkstrukturen sollten etabliert werden. Als Nächstes müssen die in diesem Heft vorgestellten Behandlungspfade in einer Pilotregion implementiert werden. Eine prospektiv angelegte, versorgungswissenschaftlich orientierte Studie wird zeigen, inwieweit diese strukturierte Versorgung durchführbar ist und inwieweit sie mit einem besseren klinischen Ergebnis verbunden ist. Vergleichend müssen analoge Studien zu anderen Versorgungsmodellen erfolgen und gegebenenfalls auch verschiedene Versorgungsmodelle parallel evaluiert werden.

Die gezielte Unterstützung der Versorgungsforschung, ein Wissenschaftsbereich, der bisher sicher zu wenig beachtet wurde, ist demnach dringend notwendig. Die Initiative der Lübecker Arbeitsgruppe ist ein wichtiger Start in die Intensivierung dieses Forschungsbereichs.

Literatur

  • 1 Raspe H, Conrad S, Muche-Borowski C. Evidenzbasierte und interdisziplinär konsentierte Versorgungspfade für Patientinnen/Patienten mit Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa.  Z Gastroenterol. 2009;  47 541-562
  • 2 Preiß J C, Schneidereit O, Höhne W. et al . Status der ambulanten Versorgung von Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen.  Z Gastroenterol. 2008;  47 (9) P004
  • 3 Blumenstein I, Bock H, Weber C. et al . Health Care and cost of medication for inflammatory bowel disease in the Rhein-Main region, Germany; a multicenter, prospective, internet based study.  Inflamm Bowel Dis. 2008;  14 53-60
  • 4 Wallace T M, Veldhuyzen van Zanten S J. Frequency of use and standards of care for the use of azathioprine and 6-mercaptopurine in the treatment of inflammatory bowel disease: a systematic review of the literature and a survey of Canadian gastroenterologists.  Can J Gastroenterol. 2001;  15 21-28
  • 5 Rubin G, Hungin A PS, Chinn D. et al . Long-term aminosalicylate therapy is under-used in patients with ulcerative colitis: a cross-sectional survey.  Aliment Pharmacol Ther. 2002;  16 1889-1893
  • 6 Gearry R B, Ajlouni Y, Nandurkar S. et al . 5-Aminosalicylic acid (mesalazine) use in Crohn’s disease: a survey of the opinions and practice of Australian gastroenterologists.  Inflamm Bowel Dis. 2007;  13 1009-1015
  • 7 Yip J S, Woodward M, Abreu M T. et al . How are Azathioprine and 6-mercaptopurine dosed by gastroenterologists? Results of a survey of clinical practice.  Inflamm Bowel Dis. 2008;  14 514-518
  • 8 Parkes J, Roderick P, Bennett-Lloyd B. et al . Variation in Hepatitis C services may lead to inequity of health-care provision: a survey of the organisation and delivery of services in the United Kingdom.  BMC Public Health. 2006;  6 3

Prof. Dr. Martin Zeitz

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