physioscience 2009; 5(3): 97-98
DOI: 10.1055/s-0028-1109710
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Grundständige akademische Ausbildung der Physiotherapeuten in Deutschland – ein Sommerlochthema?

K.-F. Heise1
  • 1Klinik und Poliklinik für Neurologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
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Publication Date:
24 August 2009 (online)

Umrahmt von der Regierungserklärung der deutschen Bundeskanzlerin zum G 8-Gipfel und einem bunten Strauß an Themen wie gleichgeschlechtliche Ehe, Genmais und zukünftige Energieaußenpolitik hat der deutsche Bundestag am 3. Juli dieses Jahres als Tagesordnungspunkt Nr. 26 über den vom deutschen Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer Modellklausel in die Berufsgesetze der Hebammen, Logopäden, Physiotherapeuten und Ergotherapeuten beraten [3]. Dieser vom Bundestag schließlich in 2. und 3. Beratung angenommene Entwurf für die Änderung des Masseur- und Physiotherapeutengesetz liest sich jetzt folgendermaßen:

Artikel 4

Änderung des Masseur- und Physiotherapeutengesetzes

Das Masseur- und Physiotherapeutengesetz vom 26. Mai 1994 (BGB1. I S. 1084), das zuletzt durch […] geändert worden ist, wird wie folgt geändert:

§ 9 wird wie folgt geändert:

Der Wortlaut wird Absatz 1

Die folgenden Absätze 2 bis 4 werden angefügt:

„(2) Zur Erprobung von Ausbildungsangeboten, die der Weiterentwicklung des Physiotherapeutenberufs unter Berücksichtigung der berufsfeldspezifischen Anforderungen sowie moderner berufspädagogischer Erkenntnisse dienen sollen, können die Länder von Absatz 1 Satz 2 erster Halbsatz abweichen. Abweichungen von der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Physiotherapeuten sind nur zulässig, soweit sie den theoretischen und praktischen Unterricht in § 1 Absatz 1 sowie die Anlage 1 Buchstabe A der Verordnung betreffen. Im Übrigen gilt die Verordnung unverändert mit der Maßgabe, dass an die Stelle der Schule die Hochschule tritt. Durch die Erprobung darf das Erreichen des Ausbildungsziels nicht gefährdet werden. Die Vereinbarkeit der Ausbildung mit der Richtlinie 2005 / 36 /EG ist zu gewährleisten.

(3) Ziele, Dauer, Art und allgemeine Vorgaben zur Ausgestaltung der Modellvorhaben sowie die Bedingungen für die Teilnahme sind jeweils von den Ländern festzulegen. Die Länder stellen jeweils eine wissenschaftliche Begleitung und Auswertung der Modellvorhaben im Hinblick auf die Erreichung der Ziele sicher. Diese erfolgt auf der Grundlage von Richtlinien, die das Bundesministerium für Gesundheit bis zum 30. November 2009 im Bundesanzeiger bekannt macht.

(4) Das Bundesministerium für Gesundheit erstattet dem Deutschen Bundestag bis zum 31. Dezember 2015 über die Ergebnisse der Modellvorhaben nach Absatz 2 Bericht. Absatz 3 Satz 3 gilt entsprechend. Die Länder übermitteln dem Bundesministerium für Gesundheit die für die Erstellung dieses Berichts erforderlichen Ergebnisse der Auswertung.”

2. § 19 wird wie folgt gefasst:

㤠19

§ 9 Absatz 2 bis 4 tritt am 31. Dezember 2017 außer Kraft. Ausbildungen nach § 9 Absatz 2, die vor dem 31. Dezember 2017 begonnen worden sind, werden nach dieser Bestimmung abgeschlossen.” (01.07.2009 – BT-Drucksache 16 / 13 652).

Was da im Bundestag in einer müden Sommersitzung beschlossen wurde, hat für unsere Berufsgruppen eine weitreichende Bedeutung. Auf der Basis der Modellklausel darf also nun jedes Bundesland die Ausbildung für die sogenannten nicht medizinischen Heilberufe als grundständiges Hochschulstudium anbieten. Die Modellprojekte sollen bis zum Jahr 2017 zeitlich begrenzt sein und einer sorgfältigen Evaluation unterliegen.

Im Rahmen der Sachverständigenanhörung äußerten sich die Herren Heinz Christian Esser und Bodo Schlag kurz und bündig: „Der ZVK unterstützt uneingeschränkt die längst überfällige Initiative des Landes NRW und bittet die Beschlussgremien dringendst, der Vorlage des Bundesrates zuzustimmen. Der Begründung der Vorlage ist uneingeschränkt zuzustimmen” (20.5.2009 [2]).

Dieser Schritt wird auch vom Verband Physikalische Therapie (VPT) als sehr positiv bewertet; doch nicht in allen Bereichen ruft die Gesetzesinitiative Begeisterungsstürme hervor. Die vorläufige Stellungnahme der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) zum Gesetzentwurf ist äußerst kritisch und zeigt unübersehbar eine eher durch wirtschaftliche Interessen beeinflusste Argumentation:

„Insofern ist diese Gesetzesinitiative, die auf eine weitere Akademisierung der nichtärztlichen Gesundheitsberufe abstellt, nach Auffassung der DKG nicht zwingend notwendig. […] Eine potentielle Überforderung der Auszubildenden durch Konzentration auf theoretische Inhalte mit entsprechenden (berufs-)politischen Ansprüchen wird sicherlich langfristig nicht dazu führen, die geschaffenen Qualitätsstandards adäquat weiter zu entwickeln. Bei einer (sachlich nicht begründbaren) generellen Akademisierung der nichtärztlichen Gesundheitsberufe besteht mithin die Gefahr der Verteuerung der medizinischen und pflegerischen Versorgung mit Gesundheitsleistungen. Zu erwartende Vergütungsansprüche, die sich aus einer akademischen Ausbildung zwangsläufig ergeben, können mit den derzeit zur Verfügung stehenden Mitteln nicht finanziert werden. Um einen effektiven und effizienten Organisationsablauf in den Krankenhäusern – im Sinne einer Prozessoptimierung – langfristig sicher zu stellen, sind andere Maßnahmen (Diversifikation der Berufsbilder) zielführender” (19.5.2009 [2]).

Auch die Bundesärztekammer (BÄK) warnt in ihrer Stellungnahme vor unüberschaubaren neu entstehenden Kosten, zweifellos wittert sie jedoch auch die Konkurrenz schon drohend am Horizont (20.5.2009 [2]). Allerdings scheint die in dem Gesetzentwurf vorgesehene Einschätzung der Kosten („Keine”), die die Veränderung des Berufsgesetzes nach sich ziehen wird, wahrscheinlich tatsächlich auf die sommerliche Atmosphäre während der Bundestagsdebatte zurückzuführen zu sein. Sicher ist, dass eine fundierte und umfassende Umstrukturierung der Ausbildung im Sinne der Konzeption eines grundständigen Hochschulstudiums, das neben der Theorievermittlung noch immer dem Anspruch an große Praxisnähe nachkommt, nicht ohne sinnvolle Investitionen in personelle und materielle Ressourcen durchzuführen ist. Sicher ist auch, dass die Umstrukturierungen nicht mal eben aus dem Ärmel geschüttelt werden können, denn die Kritik, es handele sich um eine Gesetzesverabschiedung von „unüberschaubarem Umfang”, die die Fraktion des Bündnis 90 /Die Grünen anbringt, erscheint zumindest in Teilen nicht unbegründet [3].

Es bieten sich vielfältige Haken und Ösen, die den Modellversuch zum Scheitern bringen und den Kritikern Rückenwind geben könnten. Die Konzeption und Durchführung der Modellversuche liegt bei den Bundesländern – besteht die Gefahr eines „föderalen Flickenteppichs”? Werden Leistungen der einen Hochschule an den anderen Hochschulen anerkannt und damit ein Studienplatzwechsel möglich sein? Wie wird die Evaluation der Modellvorhaben aussehen? Was wird mit den Fachschulen geschehen und wie werden die unterschiedlichen Absolventen bzw. Berufseinsteiger behandelt? Es soll bundeseinheitliche Richtlinien für die wissenschaftliche Begleitung der Modellvorhaben geben, aber wer und mit welchen Zielen wird die Modellvorhaben evaluieren? Wird es ausschließlich gesundheitsökonomisch orientierte Ziele geben? Und da sich diese Frage auf keinen Fall mit einem klaren Nein beantworten lässt – bzw. Ziele dieser Art durch die Argumente der Kritiker gleich einem Damoklesschwert von Beginn an über den Modellversuchen schweben werden –, wird es gelingen, die unbestreitbar positiven Effekte einer grundständigen akademischen Ausbildung auch ökonomisch zu messen?

Deutlich wird, dass die Kritiker der grundständigen akademischen Ausbildung allesamt kein Verständnis für den puren Wunsch nach Akademisierung haben. Es wird also definitiv unsere Aufgabe sein, die Zweifler zu überzeugen, dass dieser Schritt zu umfassenden Verbesserungen der Qualität in vielschichtigen Bereichen, wie z. B. der Verbesserung der Evidenzlage durch Zunahme physiotherapeutisch motivierter Forschung, der Verbesserung der Kommunikation zwischen den Professionen, der Ökonomisierung der Ressourcen und damit nicht zuletzt zu einer Verbesserung der Qualität der Patientenversorgung führt. Spätestens jetzt müssen wir also die Ärmel hochkrempeln, wenn das nicht schon längst geschehen ist.

Literatur

  • 1 Bundesministerium der Justiz .Gesetz über die Berufe in der Physiotherapie (Masseur- und Physiotherapeutengesetz – MP. www.bundesrecht.juris.de/mphg/BJNR108400994.html (6.8.2009)
  • 2 BT-Drs. 16 / 9898 – Vorläufige Stellungnahme der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) zum Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer Modellklausel in die Berufsgesetze der Hebammen, Logopäden, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Rettungsassistenten.  www.bundestag.de/ausschuesse/a14 /anhoerungen/ 123 /Stllg/index.html (6.8.2009)
  • 3 BT-Plenarprotokoll 2. Juli 2009 16 / 230, S.25819D – 25824A.  www.dip21.bundestag.de/dip21.web/searchProcedures/simple_search_detail_vp.do?vorgangId=13624 (6.8.2009)

Kirstin-Friederike Heise, MSc Neurophysiotherapy, BSc, PT

Wissenschaftliche Mitarbeiterin,Klinik und Poliklinik für Neurologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Martinistr. 52

20246 Hamburg

Email: kheise@uke.uni-hamburg.de

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