Dtsch Med Wochenschr 1950; 75(11): 351-354
DOI: 10.1055/s-0028-1117869
Klinik und Forschung

© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Pränatale Ernährung und kongenitale Anomalien

Hermann Schroeder
  • Inneren Abteilung des Luisenhospitals Aachen (Leiter: Professor Dr. phil., Dr. med. Hermann Schroeder)
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Publication Date:
14 May 2009 (online)

Zusammenfassung

Bis vor kurzem herrschte die Ansicht vor, daß die pränatale Nahrung beim Säugetier von keiner Bedeutung für den Embryo ist. Der Fötus wurde ganz allgemein als ein Parasit angesehen, der fähig ist, die mütterlichen Depots bis zum Extrem auszuschöpfen. Dies ist offensichtlich nicht der Fall. Aus den vorliegenden Untersuchungen muß vielmehr die sehr wichtige Folgerung gezogen werden, daß ein mütterlicher pränataler Nahrungsmangel bestimmter qualitativer Natur zur Resorption, zum Abort, zum Tod bzw. zur Frühgeburt und zu einer allgemeinen Schwäche des Nachwuchses führt. Ebenso ist durch die experimentellen Untersuchungen einwandfrei nachgewiesen worden, daß kongenitale Mißbildungen des Nachwuchses durch eine mütterliche Mangelernährung entstehen können. Diese Befunde beweisen die Wirkung eines Mangels an bestimmten Nahrungsstoffen auf die frühesten Wachstums- und Differenzierungsprozesse. Da bisher über die Umweltsfaktoren als Ursache kongenitaler Mißbildungen wenig bekannt war, werden diese Ernährungsstudien der Forschung auf diesem Gebiet einen neuen Auftrieb geben. Die erwähnten Forschungsergebnisse lassen aber auch erkennen, daß die pränatale Ernährung des Säugetieres kein „Alles- oder Nichts”-Phänomen ist, daß also die bisherige Annahme, nach der sich der Embryo entweder ausreichend aus dem mütterlichen Gewebe versorgen kann oder stirbt, nicht zutrifft. Im Falle eines bestimmten Riboflavinmangels besitzt die Mutter anscheinend gerade die Vitaminmengen, die zur Aufrechterhaltung des funktionellen Genitalzyklus und zur Beendigung der Schwangerschaft benötigt werden. Die Föten können sich sogar bis fast zur normalen Größe entwickeln. Aber gewisse Differenzierungsvorgänge sind durch den Mangel an Riboflavin gestört. Ein weiteres Absinken des Riboflavins im mütterlichen Organismus führt zur Sterilität oder zum Tod des Embryos, während ein Anstieg über den kritischen Spiegel zur Erzeugung normaler Jungen führt. So versteht man, daß ein an der Grenze befindlicher Riboflavinmangel zu normalen, abnormalen und gemischten Würfen Anlaß geben kann, weil kleine Variationen im Wachstum und unbedeutende Schwankungen des Riboflavinspiegels entscheiden, ob sich der Embryo normal oder abnormal entwickelt. Allerdings ist es experimentell unmöglich, durch eine bestimmte Diät einen konstanten Riboflavinspiegel zu erzeugen, da die Synthese dieses Vitamins durch die mütterliche Darmflora und die Koprophagie der Tiere zu gewissen Schwankungen führen kann. Wachsende Organismen haben nun Zeiten eines beschleunigten Wachstums und einer besonders ausgeprägten Differenzierung, in denen sie eine besondere Empfindlichkeit gegenüber schädlichen Faktoren zeigen, während sie gegenüber den gleichen Schädigungen zu anderen Entwicklungsperioden relativ immun sind. Es ist daher besonders bedeutsam, daß es möglich war, solche kritische Perioden in der Embryonalzeit aufzufinden, in denen die Entwicklungshemmungen durch einen bestimmten Vitaminmangel festgelegt werden. Eine ausreichende Kost nach dieser kritischen Zeit kann wohl eine erfolgreiche Beendigung der Schwangerschaft ermöglichen, vermag aber natürlich nicht die Mißbildungen zu verhindern, die sich einmal gebildet haben.

Wie bereits erwähnt, wurde bisher vielfach angenommen, daß multiple kongenitale Mißbildungen und Systemanomalien genetisch bestimmt und daher erblich sind. Diese Annahme ist nicht richtig. Wie Dunn in der Harvey-Vorlesung 1940 näher ausführte, können Entwicklungsprozesse durch Umweltstörungen in der gleichen Weise beeinflußt werden wie durch abnormale Gene. Es wird für den Erbforscher von großem Interesse sein, daß kongenitale Mißbildungen, wie Mikrophthalmie, Wolfsrachen usw., durch einen mütterlichen Mangel an wohldefinierten chemischen Substanzen, wie dem Vitamin A und dem Riboflavin, hervorgerufen werden können. Da nun von bestimmter Seite die Theorie aufgestellt worden ist, daß die Gene wie Enzyme wirken, führt vielleicht ein Riboflavinmangel oder ein defektes Gen zu den gleichen kongenitalen Anomalien, weil ein bestimmtes Fermentsystem, das für die normale Entwicklung des Skeletts notwendig ist, gestört ist. So wäre es möglich, daß diese ernährungsphysiologischen Untersuchungen zum Verständnis der Genwirkungen beitragen.

Das postnatale Verhalten des Nachwuchses mit ernährungsbedingten kongenitalen Mißbildungen ist bisher nicht untersucht worden. Einige augenlose Schweine wurden für genetische Untersuchungen benutzt. Beobachtungen darüber sind bisher nicht bekannt geworden. Bei Riboflavinmangel sind die abnormalen Jungen gewöhnlich nicht lebensfähig.

Was nun die Bedeutung dieser Ergebnisse für den Menschen betrifft, so kann kein Zweifel darüber bestehen, daß ein mütterlicher Nahrungsmangel häufig für eine erhöhte kindliche Mortalität verantwortlich ist. Bei einer pränatalen Mangelernährung kann der Föt mehr leiden als die Mutter. Die erwähnten Beispiele beweisen, daß im Kampf zwischen Mutter und Nachwuchs um die lebenswichtigen Nahrungsfaktoren nicht immer der Embryo das erhält, was er braucht. Eine Ausnahme bildet wahrscheinlich nur das Vitamin C. Das Auftreten von kritischen Perioden in der embryonalen Entwicklung, die durch eine ungewöhnliche Empfindlichkeit gegenüber einer Mangelernährung gekennzeichnet ist, eröffnet dem Gebiet der pränatalen Ernährung neue Perspektiven. Die bereits gewonnenen Erkenntnisse beweisen eindeutig die Bedeutung einer richtigen mütterlichen Nahrung in den frühesten Perioden der Schwangerschaft für das Schicksal des Kindes. Die Organbildung des menschlichen Embryos ist praktisch in den ersten 10 Wochen der Schwangerschaft abgeschlossen, d. h. zu einer Zeit, wo die werdende Mutter bei uns noch keine Ernährungszulagen erhält. Auf diese Weise kann es vorkommen, daß der Embryo durch eine pränatale Mangelernährung in den ersten Wochen des pränatalen Lebens geschädigt wird, während sich die Mutter gegen Ende der Schwangerschaft in einem tadellosen Gesundheitszustand befindet. Die Ernährungsfürsorge der werdenden Mutter sollte daher unbedingt sowohl die ersten als auch die späten Schwangerschaftsmonate einschließen.

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