Psychiatr Prax 2009; 36(1): 45-46
DOI: 10.1055/s-0028-1121942
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Gerichtsentscheidungen zu Sorgfaltspflichten psychiatrischer Kliniken

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15 January 2009 (online)

 

Die Frage, wie psychisch kranke - insbesondere suizidgefährdete - Patienten unterzubringen und zu beaufsichtigen sind, beschäftigt die Gerichte immer wieder. Welche Vorkehrungen sind seitens der Klinikleitung bzw. des behandelnden Arztes zu treffen, um nicht dem Vorwurf behandlungs- oder organisationsfehlerhaften Verhaltens ausgesetzt sein, wenn es zu Zwischenfällen kommt? Der Ausschluss von Eigen- und/oder Fremdgefährdung sowie die Verfolgung des jeweiligen therapeutischen Konzepts erscheinen oft als Gegensätze, sind aber im Klinikalltag dennoch in Einklang zu bringen. Welche Kontrollen und Beschränkungen sowie sonstigen Maßnahmen einerseits erforderlich und andererseits dem Wohl des Patienten dienlich sind, entzieht sich einer allgemeingültigen Antwort, sondern muss im jeweiligen Einzelfall unter Berücksichtigung sämtlicher relevanter Aspekte entschieden werden.

Weil ein psychiatrisches Krankenhaus von einem Patienten jedenfalls auch unvorhersehbare Gefahren abzuhalten hat, die ihm wegen der Krankheit durch sich selbst drohen, bedarf es auch auf einer offenen Station einer Grundsicherung. Diese Grundsicherung gebietet es, Sorge zu tragen, dass ein Verlassen der Station auf dafür nicht vorgesehenen Wegen verhindert wird. Jedenfalls Beruhigungsräume müssen auch ohne Bezug auf einen konkreten Einzelfall mit einem genügend sicheren Fenster ausgestattet sein, da damit gerechnet werden muss, dass unruhige Patienten, die in einen solchen Raum verbracht werden, auf unvorhersehbare Weise ein Fenster öffnen und dabei zu Schaden kommen könnten. Im Gegensatz dazu haben Aufenthaltsräume diese spezielle Funktion nicht, sondern sind Teil einer therapeutischen Maßnahmenkette, die bei psychisch Kranken eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Arzt und Krankenhauspersonal ermöglichen soll und sozialen Kontakten dient. In einem vom OLG Zweibrücken entschiedenen Fall (Urt. v. 26.3.2002 - Az.5 U13/00) war eine wegen einer Psychose aufgenommene Patientin des Nachts durch die offenstehende Tür des Aufenthaltsraums gegangen, hatte dort die - nicht durch ein Schloss gesicherte - Balkontür geöffnet und war in die Tiefe gesprungen, wodurch sie sich schwer verletzte. Die Klage der Patientin wurde abgewiesen, weil keine Organisationsmängel erkennbar seien und die Verkehrssicherungspflichten zum Schutz der Patienten auf einer offenen Station eines psychiatrischen Krankenhauses weder nach allgemeinem Maßstab noch im Hinblick auf ein erkennbares besonderes Gefährdungspotenzial verletzt worden seien. Letzteres sei auch zur Nachtzeit nicht generell höher.

Konkrete - über die Grundsicherung hinausgehende - Maßnahmen zum Schutz des Patienten durch Überwachung und Sicherung sind auch in einer psychiatrischen Klink nur bei vorhandenen Anhaltspunkten für eine erhöhte, akute Suizidgefahr erforderlich. Eine ständige Überwachung von Patienten, bei denen wegen einer depressiven Erkrankung das generelle Risiko einer suizidalen Entwicklung besteht, ist nicht geschuldet. Eine akute Suizidgefahr ergibt sich dabei nicht schon daraus, dass ein Patient vorsorglich auf die geschlossene Station aufgenommen worden ist. Ein Suizid während des Aufenthalts in einem psychiatrischen Krankenhaus kann niemals mit absoluter Sicherheit vermieden werden, unabhängig davon, ob die Behandlung auf einer offenen oder auf einer geschlossenen Station unter Beachtung aller realisierbaren Überwachungsmöglichkeiten durchgeführt wird. In einem vom OLG Stuttgart entschiedenen Fall (Urt. v. 4.4.2000 - Az.: 14 U63/99) war einer Patientin kurz vor ihrer geplanten Verlegung von der geschlossenen auf die offene Privatstation ein Ausgang von 30 Minuten zur Besichtigung der Privatstation gewährt worden. Sie kehrte nicht zur vereinbarten Zeit zurück, sondern stürzte sich aus dem 13.Stock des Personalgebäudes der Klinik und verstarb. Das Gericht gelangte zu der Überzeugung, dass bei der Patientin eine akute Suizidalität nicht erkennbar war, weil nicht schon die Schwere der Depression darauf schließen lasse. Wenn eine akute Suizidgefahr nicht erkennbar ist, muss die Klinik auch nicht unverzüglich nach einem Patienten fahnden, der nicht wie vereinbart nach einem unbegleiteten Ausgang auf dem Klinikgelände zurückkommt.

Wenn eine hochgradig depressive Patientin eines Landesfachkrankenhauses für Neurologie und Psychiatrie nach einer in Suizidabsicht selbst beigebrachten Stichverletzung in einem Kreiskrankenhaus chirurgisch versorgt und weiter behandelt wird, müssen die Ärzte des Kreiskrankenhauses auf die besondere, fortbestehende Gefahr eines erneuten Suizidversuches und die deshalb notwendige Veranlassung einer ständigen Sitzwache hingewiesen werden. Unterbleibt dieser im Einzelfall gebotene Hinweis und stürzt sich die Patientin aus dem Fenster, haftet der Träger des Landesfachkrankenhauses für das Verschulden seiner behandelnden Ärzte (Thüringer Oberlandesgericht - Urt. v. 15.11.2000 8 - Az. 4 U 241/99).

Behandlungsfehlerhaft war es nach einem Urteil des OLG Koblenz (Urt. v. 3.3.2008 - Az. 5 U 1343/07) auch, einer Patientin - einer Raucherin -, ein Feuerzeug zu überlassen, nachdem sie selbst unter der engmaschigen Fachbetreuung und Überwachung seit ihrer Aufnahme in der Klinik bereits zwei Suizidversuche unternommen hatte. Im konkreten Fall hatte die Patientin in suizidaler Absicht ihre Kleidung mit dem Feuerzeug in Brand gesetzt, was zu schwersten Verbrennungen geführt hatte.

Ingelore König-Ouvrier, Vorsitzende

Richterin am Oberlandesgericht, Frankfurt/M.

Email: Ingelore.Koenig-Ouvrier@OLG.Justiz.Hessen.de

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