Zusammenfassung
1. Der starke formative Reiz, den das Strontium auf das osteogene Gewebe auszuüben
imstande ist (Lehnerdt), räumt ihm eine dominierende Stellung in der Behandlung der
Hungerosteopathien (vor allem derjenigen, welche der Gruppe der Osteoporosen angehören)
ein. Diese Strontiumsklerose des Knochens kann auch mit großem Nutzen bei der Behandlung
schlecht heilender Frakturen verwertet werden.
2. Die auffallend rasch einsetzende analgetische Wirkung bei den mit heftigen Schmerzen
einhergehenden, unter 1 genannten Knochenerkrankungen legte den Gedanken nahe, daß
außer der direkten Beeinflussung des osteogenen Gewebes noch eine unmittelbare Wirkung
auf das Nervensystem vorliegen müsse.
3. Diese Annahme ist durch die experimentellen Untersuchungen von Boruttau und Graßheim,
welche den hemmenden Einfluß des Strontiums auf die Erregbarkeit des peripherischen
Nervensystems zeigen konnten, bestätigt worden. Dadurch ist die therapeutische Verwendung
des Strontiums aus dem Stadium der Empirie heraus zu einer wissenschaftlich gut fundierten
Methode erhoben worden. Die Wirkung auf das zentrale Nervensystem tritt bei dem von
Boruttau und Graßheim zur Prüfung verwendeten Strontium chloratum hinter dem deutlichen
Einfluß auf das peripherische Nervensystem zurück.
4. An die Stelle der peroralen Anwendung, welche bei Knochenerkrankungen als Methode
der Wahl bezeichnet werden kann, tritt die parenterale Applikation zur Behandlung
von Schmerzzuständen unterschiedlicher Art und Ursache.
5. Versuche mit den verschiedenen Verbindungen des Strontiums haben ergeben, daß dem
Bromsalz des Strontiums die stärkste analgetische Wirkung zukommt. Dem das peripherische
Nervensystem anästhesierenden Einfluß des Strontiums wird durch die hinzukommende
Bromkomponente noch die sedative Wirkung des Broms zugesellt. Im Strontiumbromid steht
ein komplexes, peripherisch und zentral am Nervensystem angreifendes Medikament zur
therapeutischen Verwendung zur Verfügung.
6. Die Behandlungsmethode der Wahl ist die intravenöse, welche bei sich ergebenden
technischen Schwierigkeiten durch die intramuskuläre und subkutane ersetzt werden
kann.
7. An einer großen, im Laufe von 2 Jahren behandelten Anzahl von Fällen ist die therapeutische
Wirksamkeit des Strontium bromatum erprobt worden. Es eignen sich besonders: Neuralgien
verschiedener Art und Aetiologie, Neuritiden, lanzinierende Schmerzen und Krisen bei
Tabes, Schmerzen bei Enzephalitis, Schmerzzustände bei inoperablen Karzinomen (Knochenmetastasen),
Gelenkschmerzen bei chronischen Arthritiden, Schmerzen im Verlaufe akuter entzündlicher
Erkrankungen. Bei den letzteren Krankheitszuständen ist nicht nur eine günstige Beeinflussung
der Schmerzen, sondern auch ein Rückgang der entzündlichen Erscheinungen zu beobachten,
was im Sinne der Spießschen Lehre von der entzündungswidrigen Wirkung der Anästhetika
gedeutet werden kann.
8. Wird naturgemäß das Strontium bromatum auch nicht als vollwertiger Ersatz des Morphiums
angesehen werden dürfen, so besteht doch die Möglichkeit, Kranke, welche an längerdauernden,
mit Schmerzen einhergehenden Erkrankungen leiden, vor dem Morphinismus zu bewahren.
9. Die intravenöse und intramuskuläre Anwendung des Strontiumbromids stellt, soweit
ich die Literatur überblicke, den ersten Versuch einer parenteralen Bromtherapie dar.
10. Es wird durch ausgedehnte Anwendung bei Epileptikern zu prüfen sein, ob die intravenöse
Bromtherapie mit Strontiumbromid der bisher geübten stomachalen Anwendung des Broms
überlegen ist. Auf Grund der vorliegenden experimentellen Ergebnisse und der Untersuchungen
der Bromausscheidung scheinen mir derartige Versuche aussichtsreich zu sein.