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DOI: 10.1055/s-0028-1133660
Schwinden eines schweren hysterischen Symptomenkomplexes, bedingt durch sexuelle Uebererregbarkeit, nach Kastration
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
22. Mai 2009 (online)

Zusammenfassung
Bei der Kranken bestand jahrelang ein schwerer hysterischer Symptomenkomplex, sich äußernd in gehäuften Anfällen, seelischen Veränderungen und Ausnahmezuständen, Gang-, Sprach- und Blasenstörungen. Von November 1917 bis März 1922 bestanden die Erscheinungen, abgesehen von kurzen freien Intervallen, unverändert fort. Sie trotzten jeder Therapie. Die verschiedensten Maßnahmen zeitigten immer nur vorübergehende Besserungen. Die Analyse ergab eine gesteigerte sexuelle Erregbarkeit, die zur schwersten Masturbation, zur Einführung von Fremdkörpern führte. Der Konflikt zwischen Sexualerleben und Selbstvorwürfen darüber zeitigte die Symptome. Wie weit dabei noch die Symptome auch als eine Ersatzbefriedigung des Sexualtriebes anzusehen sind, muß dahingestellt bleiben. Die Analyse hatte hier kein sicher verwertbares Ergebnis. Reales und pseudologisch Ausgesponnenes waren hier eng miteinander verflochten, sodaß die Angaben der im übrigen sehr wahrheitsliebenden Kränken keine Beurteilung zuließen. Dieses Moment ist für die vorliegende Frage von sekundärer Bedeutung.
Bei der Aussichtslosigkeit aller Therapie schlug ich die Kastration vor. Die Kranke und ihre Angehörigen wurden selbstverständlich auf die möglichen Ausfallserscheinungen hingewiesen. Beide Teile entschlossen sich bei der Unerträglichkeit des Zustandes zur operativen Maßnahme. Der Erfolg war prompt. Die Symptome blieben aus. Von sexuellen Reizerscheinungen wird nichts berichtet. Psychisch ist die Kranke frei. Es bestehen unerhebliche Ausfallserscheinungen, wie Wallungen und Fettansatz. Daß sexuelle Reizerscheinungen nicht mehr vorhanden sind, entspricht der gewöhnlichen Erfahrung.
Die Bedeutsamkeit des Falles liegt auf verschiedenen Gebieten: Zunächst erscheint es sicher, daß, neben der individuellen Disposition, die sexuelle Erregbarkeit und der durch sie hervorgerufene seelische Konflikt für die Genese der Krankheitssymptome wesentlich von Bedeutung sind. Man wird der therapeutischen Maßnahme nicht entgegenhalten können, daß die Suggestion des operativen Eingriffes den Erfolg gezeitigt hat. Hier ist daran zu erinnern, daß die von Gynäkologen so häufig ausgeführten Maßnahmen, sowie die früher häufiger vorgekommenen Scheinoperationen, kaum jemals zu einem länger währenden Erfolge geführt hatten. Im vorliegenden Fall handelt es sich bereits um einen Dauererfolg von beinahe 2 Jahren. Der Kausalzusammenhang zwischen sexueller Erregung und Symptomenkomplex wird durch die Tatsache erhärtet, daß erst die Kastration die Beseitigung der Störungen brachte, während die Röntgenbestrahlung ohne Erfolg blieb. Man wird sich davor hüten müssen, die Ergebnisse dieses Falles zu verallgemeinern. Er bestätigt aber die Freudsche Anschauung, daß das hysterische Symptom in mittelbarer oder unmittelbarer Weise eine Umformung des nicht befriedigten Sexualtriebes darstellen kann. Die Kranke machte den erfolglosen Versuch, die gesteigerte Sexualempfindung zu bekämpfen, und kam, da ihr das nicht gelang, zu schweren Selbstvorwürfen, derer sie ebensowenig Herr wurde. Eine ausgesprochene Verdrängung im Freudschen Sinne liegt nicht vor. Immerhin spielen sich psychische Vorgänge ab, die der Freudschen „Verdrängung” sehr nahe kommen, da es sich auch hier teilweise um eine Flucht in das Symptom handelt. Es wurde aber schon betont, daß auch möglicherweise eine direkte Umformung der sexuellen Erregung in die Symptome zum Zwecke der sexuellen Beruhigung stattfand.
Beachtenswert ist nun, daß die Aufhellung des Zusammenhanges nicht die erwartete Abreaktion gebracht hat. Das zeigt uns, daß durchaus nicht immer die Aufdeckung der Zusammenhänge eine Beseitigung der Symptome zur Folge hat. Das triebhafte Moment war so dominierend, daß alle psychischen Beeinflussungsversuche erfolglos bleiben mußten. Dieses starke Hervortreten der Triebkomponente ließ es uns auch berechtigt erscheinen, trotz aller Bedenken, die Kastration vornehmen zu lassen.
In der Literatur habe ich über einen solchen Eingriff zum Zweck der Beseitigung hysterischer Symptome nichts finden können. Es wird wohl auch nur in jenen Fällen, in denen das sexuelle Moment so auffällig wie hier im Vordergrund steht und in denen jede andere Therapie erfolglos war, in Frage kommen. Immerhin legt dieser Fall die Forderung nahe, in jedem hartnäckigen Fall von hysterischen Symptomen den sexuellen Faktoren nachzugehen.