Dtsch Med Wochenschr 1921; 47(21): 586-587
DOI: 10.1055/s-0028-1140672
© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Zur Ueberbrückung großer Nervendefekte mit freier Transplantation

R. Cassirer, E. Unger 1 ) 1) Vortrag in der Berliner Gesellschaft für Chirurgie am 7. II. 1921.
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Publication Date:
24 August 2009 (online)

Zusammenfassung

4 Wochen nach einer schweren Verletzung der drei großen Nervenstämme im Plexus brachialis werden große Defekte aller drei Nerven durch konservierte menschliche Nerven ersetzt. Nach 12 Monaten wird zuerst im Radialis eine deutliche Besserung konstatiert, die in typischer Weise zuerst die Extensoren der Hand betrifft und allmähliche Fortschritte macht. Jetzt, nach 32 Monaten, ist die motorische Funktion des Radialis nahezu völlig wiederhergestellt. Auch die Extensoren der Finger sind wieder leistungsfähig geworden, wenn sie auch noch nicht volle Kraft entwickeln. Die Sensibilität im Radialisgebiet ist gebessert, aber selbst jetzt noch nicht völlig wiederhergestellt. Im Medianus- und Ulnarisgebiet besteht noch fortdauernd eine vollkommene motorische und sensible Lähmung. Auffällig ist nur, daß auch jetzt noch, so lange Zeit nach der Operation, die galvanische Erregbarkeit der Muskeln in überraschend gutem Maße erhalten ist. Es bedarf nur mittelstarker Ströme, kaum stärkerer als auf der gesunden Seite. Die Zuckung ist wohl etwas träge, aber nicht ganz wurmförmig.

Im Radialis ist also durch die Operation eine weitgehende Restitution erzielt worden.

Bei der ganzen Lage des Falles und unter Berücksichtigung der Tatsache, daß bei der hier gewählten Methode sonst noch niemals ein günstiger Erfolg erzielt worden ist, haben wir uns naturgemäß die Frage vorlegen müssen, ob hier nicht irgendein Beobachtungsfehler vorliegt. Wir glauben, diese Frage unbedingt verneinen zu sollen. Daß ein Defekt von der angegebenen Länge im Radialis vorhanden gewesen ist, ist über allen Zweifel sichergestellt. Der Fall ist einer der letzten unter einer Reihe von 50 Plexusverletzungen, die wir gemeinsam beobachtet und operiert haben. Die Orientierung, namentlich an dem narbig veränderten Plexus, ist zunächst gewiß nicht einfach, aber bei steigender Erfahrung gelang sie schließlich doch immer ganz sicher. Ein Irrtum ist hier um so weniger möglich, als auch im Ulnaris und Medianus Defekte von annähernd gleicher Länge vorhanden waren und demnach eine andere Leitung des nervösen Impulses außer über die überbrückten Stellen überhaupt nicht in Frage kommt. Die Restitution im Radialis verlief in allen Einzelheiten in der Art und Weise. wie das bei Radialisnähten und überhaupt bei Nervennähten der Fall zu sein pflegt. Bestimmte Muskeln. beim Radialis zuerst wohl immer die Extensoren der Hand, zeigen die erste Wiederkehr der Bewegung. Die Restitution hält auch weiterhin dann einen bestimmten Typus inne. Ganz charakteristisch ist auch die unvollständige Besserung der Sensibilität in dem motorisch fast völlig wiederhergestellten Gebiete. Der Beginn der Restitution hat etwa 1 Jahr auf sich warten lassen. Das ist für den Radialis ja etwas länger als gewöhnlich bei der Naht.

Es mag noch darauf hingewiesen werden, daß die Restitution erfolgte, obwohl die Zirkulationsverhältnisse nach Durchschießung der Arterie gewiß nicht eben günstig waren.

Im Medianus und Ulnaris ist eine Besserung der Funktion weder auf motorischem noch auf sensiblem Gebiete eingetreten obwohl doch unter ganz gleichen Bedingungen operiert wurde. Für diese Divergenz fehlt uns natürlich jedes Verständnis. Dabei ist ein Punkt aber immerhin noch bemerkenswert. Das Verhalten der elektrischen Erregbarkeit weicht in diesen Nerven insofern von den gewöhnlichen Befunden ab, als die direkte galvanische Erregbarkeit noch jetzt ungewöhnlich gut erhalten ist. Meist ist diese nach so langer Zeit schon sehr stark abgesunken und es bedarf der Anwendung hoher Stromstärken, um noch irgendwelche Zuckungen zu erzielen. Das läßt uns mit der Möglichkeit rechnen, daß hier auch noch im Medianus- und Ulnarisgebiet Restitution eintreten könnte. Dazu kommt noch eine merkwürdige Angabe, die der Patient selbst macht. Er hat das Gefühl, als ob er auch eine Beugung der Hand und der Finger ausführen könnte aber immer, wenn er einen Versuch dazu macht, gerät die Hand in Streckstellung. Dergleichen Angaben als ob die Kranken in der Lage wären, eine Bewegung auszuführen, die ihnen dann doch nicht gelang haben wir mehrfach dort erhalten, wo es späterhin dann schließlich noch zu einer Restitution gekommen ist, und man wird sich wohl vorstellen müssen. daß unter diesen Bedingungen zentripetale Reize durch die blockierte Stelle hindurch von der Peripherie her zur Hirnrinde gelangen, die dort die Vorstellung einer Bewegungsmöglichkeit erwecken. Freilich ist auch damit zu rechnen daß solche zentripetalen Reize aus der Nervennarbe stammen und in der Art der Empfindungen bei Amputierten falsche Naehrichten über die Zustände in der Peripherie geben. Daß dann jedesmal bei unseren Kranken auf einen solchen Bewegungsimpuls hin nur eine Streckung zustaudekam, erklärt sich ohne Schwierigkeit daraus, daß ihm als einzige zentrifugale Leitung nur die Radialisbahn zur Verfügung stand.

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