Zeitschrift für Klassische Homöopathie 2009; 53(3): 143-149
DOI: 10.1055/s-0029-1213561
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© Karl F. Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Paradigmenkrise in der Homöopathie: homöopathische Medizin und naturwissenschaftliche Rationalität

Wolfgang Würger
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Publication Date:
17 September 2009 (online)

Zusammenfassung

In den letzten Jahrzehnten erlebt die Homöopathie eine Weiterentwicklung in viele neue Richtungen. Unter diesen Umständen ist es besonders wichtig, sich in kritischer Selbstreflexion des konstituierenden Rationalitätsbegriffs unserer Wissenschaft zu versichern. Dies soll hier zunächst in Abgrenzung zum naturwissenschaftlichen Paradigma durchgeführt werden.

Summary

Present homoeopathic medicine seems to divide in a multitude of schools and trends. These circumstances require a critical self-reflection on the concept of reason which constitutes our science. First step is a discussion concerning the paradigm of natural sciences and its exclusive claims of scientific knowledge in medicine.

Literatur

  • 01 Bacon F. Das Neue Organon (Novum Organon). Herausgegeben von Manfred Buhr Berlin; Akademie-Verlag 1962
  • 02 Crombie A C. Von Augustinus bis Galilei. Die Emanzipation der Naturwissenschaften. München; Deutscher Taschenbuchverlag 1977
  • 03 Descartes R. Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung. Hamburg; Felix Meiner 1978
  • 04 Eckart W. Geschichte der Medizin. Berlin, Heidelberg, New York; Springer 1990
  • 05 Foucault M. Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Frankfurt a.M.; Fischer 1991
  • 06 Hahnemann S. Organon der Heilkunst. 6. Aufl. Heidelberg; Haug 1991
  • 07 Horkheimer M, Adorno T W. Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M.; Suhrkamp 1972
  • 08 Ivanovas G. Wissenschaftliche Homöopathie – Fiktion oder eigene Kategorie?.  Homöopathie Konkret. 2008;  1 (1) 91-98
  • 09 Ivanovas G. Rekursion und Netzwerkpathologie – grundlegende epistemische Werkzeuge für einen Paradigmenwechsel in der Medizin.  Homöopathie Konkret. 2008;  1 (2) 84-90
  • 10 Kant I. Kritik der reinen Vernunft. 2 Bde. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel Frankfurt a.M.; Suhrkamp 1976
  • 11 Klunker W. Zum Begriff der Unterdrückung in der Homöopathie.  ZKH. 1991;  35 (3) 91-96
  • 12 Kuhn T S. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a.M.; Suhrkamp 1988
  • 13 Wittgenstein L. Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung. Frankfurt a.M.; Suhrkamp 1985
  • 14 Würger[-Donitza] W. Rationalitätsmodelle und ihr Zusammenhang mit Leben und Tod. Würzburg; Königshausen & Neumann 1996
  • 15 Würger[-Donitza] W. Paradigmata in der wissenschaftlichen Medizin. Wissenschaftstheoretische und philosophische Überlegungen.  Würzburger medizinhistorische Mitteilungen. 1999;  18 511-524
  • 16 Würger W. Bemerkungen zu Homöopathie, Miasmen und Krebs.  ZKH. 2008;  52 (3) 116-121

Anmerkungen

01 Beispielsweise zu sehen an der sehr emotional geführten Diskussion um die Beiträge von Möllinger: Beitrag in ZKH 2006; 50 (S1): S13 – S34, Diskussion in ZKH 2007; 51: 132 – 135.

02 Weitere Forschungsliteratur zu diesem Diskurs in [15].

03 Die Bahn brechende Rolle, die der Anatomie von Vesalius bis Bichat für die im Aufbruch befindliche Medizin zukam, war bestens geeignet, diesem Trugschluss, der das Tote und das Lebendige in eins setzte, beständig Nahrung zu geben.

04 Diese Tendenz der Naturwissenschaft, den mit ihrem Paradigma verbundenen Wissenschaftsbegriff als allein gültig und damit absolut zu setzen, reicht zurück bis zu Descartes. Für diesen fiel „Vernunft” deckungsgleich mit dieser Rationalitätsform zusammen, der gegenüber andere Vernunftformen fortan als überholt gelten sollten [3: S. 46].

05 In Staaten, in denen diese Machtallianz nicht besteht, z.B. in Indien, stellt sich die Situation anders dar.

06 Schildert uns ein Patient seine Beschwerden, so bekommen wir von ihm eine Interpretation, denn selbstverständlich kann er uns diese Beschwerden nicht bieten, wie sie objektiv, d.h. an sich sind, sondern nur, wie sie für ihn sind, wie er sie erlebt, wie er sie wahrnimmt, also höchst subjektiv. Indem er diese Wahrnehmungen in Sprache kleidet, nimmt er eine weitere Interpretation vor, die wir als Therapeuten dann unsererseits wiederum interpretieren müssen, um seine Äußerungen mit unserer Fachsprache möglichst nahe zusammenzubringen. Mit jeder Frage und mit jeder Antwort schreiten wir in diesem kommunikativen Interpretationsprozess weiter voran, von therapeutischer Seite so lange, bis wir glauben, mit guten Gründen handlungsfähig zu sein. Auf der anderen Seite benötigen aber auch die objektiven Zeichen Interpretation, die Einfügung in einen sinnhaft gedeuteten Zusammenhang, wenn wir aus ihnen für unsere Arbeit wertvolle Informationen entnehmen wollen.

07 Francis Bacon, einer der wichtigsten Wegbereiter der induktiv-experimentellen Methode, wusste noch darum, dass alles, was die der Natur sich zuwendenden Wissenschaften zu Tage fördern, „Interpretation” ist und dass alle angestrebten Erfolge davon abhängen, diese Wissenschaften zu einem möglichst angemessenen Interpretationsinstrument auszugestalten, vgl. [1: 41].

08 Wollte die naturwissenschaftliche Medizin den Interpretationscharakter ihres Wissens in Abrede stellen, so bliebe als einzige Alternative der Rekurs auf eine Art von sich offenbarendem Wissen übrig: Der erkennende Geist gelangt dabei direkt zu einer Sicht der Dinge, wie sie wirklich sind, was, erkenntnistheoretisch betrachtet, eine platonische Position darstellt. Diese stünde selbstverständlich mit ihrem eigenen Wissenschaftskonzept über Kreuz.

09 Sie waren im Rahmen des reduktionistischen Paradigmas nicht mehr sinnvoll zu stellen. So ging dieser neuen Wissenschaft gleich zu Beginn ihr wichtigster Bezugspunkt verloren, nämlich der nach Sinn in seiner Existenz suchende Mensch. Einen späten, positivistischen Ausdruck dieses epochalen Bruchs im neuzeitlichen Denken finden wir in dem Satz Wittgensteins: „Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen [was für ihn heißt: naturwissenschaftlichen, W. W.] Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind” [13: S. 114, Ziffer 6.52]. Eine Entwicklung, unter deren Folgen wir heute noch immer, und zwar im globalen Maßstab, leiden, nicht zuletzt auch in der Medizin.

10 In einer längeren Abhandlung habe ich mich mit dieser Thematik einer sympathetischen Rationalitätsgestalt ausführlich auseinandergesetzt, vgl. [14].

11 Der lebende Organismus ist kein „System”, auch kein „autopoietisches”. Anstatt zu versuchen, das Lebendige weiter in eine völlig unpassende Terminologie hineinzuzwingen, sollte es die vornehmliche Aufgabe aller biologischen Wissenschaften sein, das Besondere und Eigene des Lebendigen zu begreifen.

Dr. Wolfgang Würger

Prinz-Eugen-Str. 1

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