Aktuelle Dermatologie 2009; 35(8/09): 305
DOI: 10.1055/s-0029-1214969
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wen juckt's?

Who Cares?C.  Bayerl
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Publication Date:
21 August 2009 (online)

Prof. Dr. Christiane Bayerl

Bei meiner letzten Vortragsveranstaltung für Nicht-Dermatologen sprach ich auch über die Therapie des Juckreizes. Im Anschluss war eine offene Diskussion möglich und es wurden Karten verteilt, auf denen die Frage notiert werden konnte. Einer der schriftlichen Frager äußerte, er verstehe nicht, warum Dermatologen eine solche Befriedigung darin finden und Freude daran haben, Juckreiz zu behandeln und zu stillen. Der Frager ist damit ganz auf der Linie des deutschen Dichterfürsten Goethe, der sich ja als Nebenbeschäftigung nicht nur mit der Farbenlehre, sondern auch gerne mit medizinischen Themen beschäftigt hat. Ich zitiere: „Die Hitze schafft alles flussartige weg und treibt, was Schärfe im Körper ist, nach der Haut, und es ist besser, dass ein Übel juckt, als dass es reißt und zieht.” Wer selbst jemals Juckreiz hatte und genügend Patienten mit dieser Beschwerde sieht, weiß dagegen, dass Juckreiz keine Bagatelle ist.

Der Wortstamm zu Pruritus, Juckreiz, ist etwas zweideutig. Hinter dem Verb „prurire” steckt „jucken”, aber auch „geil sein”. Bei den „alten Römern” haben Martial, bekannt für seine Epigramme, und Catull, bekannt für seine in Distichen verfasste römische Elegie, die Doppeldeutigkeit des Verbs „prurire” gerne genutzt. Beiden kam dies besondern zu Pass für ihre Schmäh- und erotischen Gedichte. Prurigo wurde im bildlichen Sinne benutzt; das Wort wurde in bitteren Spottgedichten verwendet und nur in der gemeinen Rede benutzt. Nahe lag auch die Assoziation zwischen Krätze, Juckreiz und Unsauberkeit. Um auch noch die älteren Griechen zu Wort kommen zu lassen: In dem Werk Gorgias von Platon lässt er seinen Lehrvater, den Philosphen Sokrates, gegenüber Kallikles, einem Sophisten, auftreten und argumentieren. Sokrates setzt er ein als Philosoph, dem Gottlosigkeit vorgeworfen wird gegenüber der damalig vorherrschenden Naturphilosophie der Sophisten, den wir aber heute als nimmermüden Hinterfrager und Begründer des ergebnisoffenen philosophischen Dialogs zum Erkenntnisgewinn schätzen. Sein Gegenredner im Werk der Gorgias ist Kallikles, ein Kopfmensch ohne Moral. Kallikles bezeichnet den Sokrates als abgeschmackt, als eine lästige Stechfliege, die Juckreiz verursacht. Kallikles verwendet für Sokrates den Ausdruck „átopos”. Dies wird zumeist als „absurd”, „abwegig”, „fehl am Platz” oder „deplaziert” übersetzt. Und schon hätten wir den Wortstamm von „Atopie” erläutert und auch die Assoziation mit Juckreiz bei der atopischen Dermatitis.

Juckreiz ist mehr als der „kleine Bruder” des Schmerzes. Es werden nicht nur motorische und sensorische Juckreizareale aktiviert, sondern auch emotionale Bereiche im Gehirn. Kratzen hat eine wohltuende Wirkung und wird erst dann beendet, wenn das Blut fließt. Oft wird der Ausdruck „orgiastisches” Kratzen verwendet, um die Befriedigung zu beschreiben, die eine Kratzattacke auslöst. Forscher der Wake Forest University in Winston-Salem haben mit funktionellem Magnet-Resonanz-Imaging die Hirnaktivitäten gemessen, die entstehen, wenn Probanden am rechten Unterschenkel wiederholt gekratzt werden. Robuste bilaterale Änderungen der Hirnaktivitäten waren zu messen. Die Aktivitäten im vorderen und hinteren cingulären Kortex waren abgesunken. Das erste Areal steuert Abneigung gegenüber unangenehmen Sinneswahrnehmungen, das zweite negative Erinnerungen. Vermehrte Aktivität fand sich im somatosensorischen Kortex, im präfrontalen Kortex, im unteren Parietallappen und im Kleinhirn. Dabei sind Areale, die mit Schmerzempfindung und Zwangsverhalten assoziiert sind, was als Erklärung für das zwanghafte Kratzen herangezogen wurde. Mehr zur Juckreizforschung und zur Therapie des Juckreizes finden Sie in diesem Heft.

Bleiben Sie begeistert in der Suche nach Juckreizursachen und in der Juckreiztherapie, denn „Mit den Jahren runzelt die Haut, mit dem Verzicht auf Begeisterung aber runzelt die Seele” (Albert Schweitzer).

Prof. Dr. med. Christiane Bayerl

Klinik für Dermatologie und Allergologie, HSK,
Wilhelm-Fresenius-Klinik
Städtisches Lehrkrankenhaus der Universität Mainz

Aukammallee 39

65191 Wiesbaden

Email: Christiane.Bayerl@HSK-Wiesbaden.de

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