Zeitschrift für Palliativmedizin 2010; 11(2): 76-77
DOI: 10.1055/s-0029-1223529
Positionspapier

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die spezialisierte ambulante pädiatrische Palliativversorgung: eine reale Herausforderung

Specialised Outpatient Paediatric Palliative Care: A Real ChallengeB.  Zernikow
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Publication Date:
25 March 2010 (online)

56-mal das Wort „Kinder” findet man im „Bericht an das Bundesministerium für Gesundheit über die Umsetzung der SAPV-Richtlinie für das Jahr 2009”, der in diesen Tagen vom Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) publiziert wurde. Das weckt die Hoffnung, dass mindestens die Hälfte, vielleicht aber auch nur ein Viertel, sicherlich aber doch ein Zehntel der Textstellen Hinweise auf Versorgungsverträge zur spezialisierten ambulanten pädiatrischen Palliativversorgung (SAP[P]V) geben. Analysiert man jedoch die Textstellen im Einzelnen, so bezieht sich keine einzige auf einen abgeschlossenen pädiatrischen SAPV-Vertrag. Doch was verbirgt sich dann hinter 56 Treffern mit dem Stichwort „Kinder”?

Zunächst einmal die bekannte Formulierung des Gesetzes zur „Stärkung des Wettbewerbs in der Gesundheitsversorgung” (§ 37b, § 132d SGB V; Februar 2007), die sowohl in der GBA-Richtlinie (20.12.2007) als auch in den Empfehlungen der Krankenkassen (23.6.2008) in leicht modifizierter Form übernommen wurde: „Dabei sind die besonderen Belange von Kindern zu berücksichtigen.”

Es finden sich auch Hinweise auf ein Modellprojekt in Nordrhein-Westfalen, welches mit der sehr kraftvollen Unterstützung von Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann ins Leben gerufen worden war und nach 2 Jahren im September 2009 auslief. Zumindest für einen Teil der betroffenen Kinder und ihrer Familien konnte durch die ambulanten pädiatrischen Palliativzentren in Bonn und Datteln über dieses Modell eine SAP(P)V gewährleistet werden. Die Erfolge dieses Projektes sind von der DGP mit dem „Anerkennungs- und Förderpreis Ambulante Palliativversorgung 2009” ausgezeichnet worden. Bis zum heutigen Tag, dem 22.2.2010, ist eine Überführung in Versorgungsverträge der Regelversorgung nach den §§ 37b, 132d SGB V (noch) nicht geglückt. Die Verhandlungen mit den Krankenkassen sind geprägt durch die „8-Euro-Zusatzgebühr-Stimmung”. Die prekäre wirtschaftliche Situation der Kostenträger ist real und nicht wegzudiskutieren. Die Krankenkassen dürfen nicht zum Prügelknaben der Nation werden. Demografischer Wandel sowie steigende Arzneimittelkosten sind durch sie schwer zu beeinflussen. Aber ist die pädiatrische Palliativversorgung wirklich dazu geeignet, Milliardendefizite auszugleichen? Könnten Kostenträger hier nicht ein Signal setzen, dass ihnen das Leid sterbenskranker Menschen, insbesondere das betroffener Kinder und ihrer Familien besonders am Herzen liegt und sich die Versicherten darauf verlassen können, dass sie in dieser Situation von ihrer Krankenkasse nicht alleingelassen werden?

56-mal „Kinder” im GBA-Bericht über den Stand der SAPV im Jahre 2009: der verbleibende Anteil der Treffer verweist auf Verträge mit Palliative-Care-Teams (PCTs) für Erwachsene und andere Anbieter der Palliativversorgung Erwachsener, in denen die besonderen Belange von Kindern – man hat den Eindruck als „Nebentätigkeit nach Feierabend” – mitberücksichtigt worden sind (Zitate aus den Krankenkassen-Selbstauskünften des GBA-Berichts 2009: „Die besonderen Belange von Kindern und Jugendlichen werden von den Vertragspartnern berücksichtigt. Weitere Regelungen werden nicht getroffen.” oder „Im Vertrag ist geregelt, dass die Belange von Kindern und Jugendlichen besonders zu berücksichtigen sind. Dabei obliegt es den Palliativzentren [Ergänzung des Autors: Palliativzentren für Erwachsene], geeignete Leistungserbringer zu akquirieren und bei Bedarf diese entsprechend umzusetzen.”) Erwachsene werden hier zum Regelfall definiert. Das Kind ist die Ausnahme und dessen Versorgung soll sich am Regelfall orientieren. Das Modell „ein Kind ist 60 % eines Erwachsenen”, wie für die Kalkulation der Hartz-IV-Sätze verwendet, scheint sich auch bei den SAPV-Verträgen durchzusetzen. Jeder, der selbst Kinder hat oder in seinem Beruf mit Kindern und Jugendlichen umgeht, weiß, dass Kinder einer eigenen Struktur bedürfen, eigene Bedürfnisse haben und eine eigene Herausforderung darstellen. Es müsste eigentlich heißen: jedes Kind benötigt 160 % des Hartz-IV-Satzes eines Erwachsenen!

Kindsein ist geprägt durch ein Kontinuum an körperlicher und psychosozialer Entwicklung. Ein Erwachsener hat beispielsweise Schuhgröße 41und das sein Leben lang. Kindliche Füße jedoch wachsen (ständig). Kinder benötigen neue Schuhe, wenn die alten Schuhe zu klein geworden sind, und die Abstände des Schuhneukaufs werden von der Wachstumsgeschwindigkeit der Füße bestimmt. Kinderschuhe als Einzelpaar sind zudem nicht immer günstiger zu haben als Schuhe für Erwachsene. Hinzu kommen in jedem Schuljahr neue Schulbücher, Hefte, Stifte, Schulranzen, Sportschuhe und evtl. noch Nachhilfe, Rechtschreibtraining oder Musikstunden. Für Schulkinder ist die „Peer Group” existenziell wichtig zur altersentsprechend normalen und gesunden Entwicklung der eigenen Autonomie und eines Selbst. Nicht an einer Klassenfahrt teilnehmen zu können, nicht mit der „Peer Group” ins Kino zu dürfen, nicht im Schwimmbad die Liegewiesen unsicher zu machen, birgt das Risiko einer gestörten psychischen Entwicklung. Wie kommt man dann darauf, dass ein Kind 60 % des Hartz-IV-Satzes eines Erwachsenen benötigt?

Doch was hat das alles mit SAP(P)V zu tun? Die besonderen Bedürfnisse von Kindern sind bestimmt durch einen kontinuierlichen sehr individuell ablaufenden Entwicklungsprozess wie beispielsweise die Unfähigkeit zur verbalen Kommunikation im Neugeborenen- und Säuglingsalter, eine spezifische Art der Kommunikation in allen Altersabschnitten, eine herausragende Bedeutung der Familie als „primary care giver”, einer überragenden Wichtigkeit der „Peer Group” im Schulalter und außerdem noch durch die Besonderheiten pädiatrischer Erkrankungen. Die Palliativversorgung von Kindern und Jugendlichen ist anspruchsvoll – u. a. durch die auf die Fläche gerechnet niedrige Fallzahl, das breite Krankheitsspektrum mit einem Überwiegen neurologischer Erkrankungen, die begrenzten Fortbildungsmöglichkeiten, die absolute Notwendigkeit der Versorgung auch von Geschwistern und Eltern sowie das Fehlen ausreichend erforschter und für Kinder konfektionierter Medikamente. Pädiatrische Palliativversorgung als „kleine Schwester” der erwachsenen Palliativversorgung wird den komplexen Bedürfnissen sowie dem Leid betroffener Kinder und ihrer Familien nicht gerecht! Betroffene Kinder und deren Familien dürfen nicht dafür herhalten, dass Portfolio von PCTs für Erwachsene zu vergrößern. Hier sind nicht in erster Linie die Kostenträger gefragt, sondern die PCTs für Erwachsene, die in Verhandlungen mit den Krankenkassen ganz unmissverständlich zum Ausdruck bringen müssen, dass sie die SAPV für Kinder nicht leisten können und hierfür eine gesonderte Struktur aufgebaut werden muss.

Kinder haben ein Recht auf eine ihren Bedürfnissen entsprechende Sicherung des Existenzminimums und eine ihren Bedürfnissen entsprechende spezialisierte ambulante pädiatrische Palliativversorgung!

Das bedeutet jedoch keinesfalls, dass die PCTs für Kinder nicht Wissen und Fertigkeiten von anderen, eher Erwachsene versorgende Subspezialitäten nutzen möchten. Wenn die Situation des kranken Kindes weniger durch sein Kindsein geprägt ist, als durch ein spezielles Gesundheitsproblem, das Spezialwissen oder -fertigkeiten bedarf, ist es selbstverständlich, dass Experten für diese Subspezialität in die Behandlung integriert werden. Einen 15-jährigen Jungen mit einem pulmonalen Rezidiv eines Osteosarkoms würde jeder pädiatrische Onkologe und Palliativmediziner lieber von einem exzellenten Herz-Thorax-Chirurgen operieren lassen, der sich mit Metastasektomien auskennt, als von einem Kinderchirurgen, der in Lungenchirurgie nicht geübt ist. Die prä- und postoperative Betreuung ist jedoch maßgeblich vom Jugendlichsein des 15-Jährigen geprägt und sollte auf einer pädiatrischen Krankenstation erfolgen.

Für die Rotation von transdermalem Fentanyl auf orales Levomethadon bei neuropathischen Schmerzen eines 6-jährigen Patienten mit Neuroblastom werden die meisten – auch sehr erfahrene pädiatrische Onkologen und Palliativmediziner – einen Erwachsenen-Palliativmediziner, der Erfahrungen mit Levomethadon hat, um Mithilfe bitten. Und das ist auch gut so!

Aber typisch pädiatrisch ist, dass eine Schmerztherapie bei einer Zerebralparese sehr viel häufiger erforderlich ist, als die Rotation von transdermalem Fentanyl auf Levomethadon per os bei einem Kind – ein Fall, der bis dato kein einziges Mal in der Weltliteratur publiziert wurde.

Die flächendeckende spezialisierte ambulante pädiatrische Palliativversorgung auf dem Niveau wie es von GBA und Kostenträgern definiert wurde, kann nur durch spezielle PCTs für Kinder erfolgen und nicht nebenbei durch PCTs für Erwachsene. Mir als Kinderarzt ist es vollkommen unverständlich, warum einerseits im GBA-Bericht 2009 kein einziger pädiatrischer SAPV-Vertrag aufgeführt wird und andererseits die Exekutive in Deutschland an dieser Stelle nicht tätig wird. Als Nichtjurist erschließt sich der Unterschied nicht, dass jeder Bürger in Deutschland bestraft wird, wenn sie oder er mit einem Fahrrad über eine rote Ampel fährt, aber ein Gesetz zur spezialisierten ambulanten Palliativversorgung, welches die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen im Besonderen berücksichtigt wissen will, 3 Jahre lang weitgehend ignoriert werden darf, ohne dass auch nur eine Ordnungswidrigkeit konstatiert wird.

Eine Antwort darauf könnte lauten, dass Kinder in der Wahrnehmung der Gesellschaft nicht nur 60 % der Kosten eines Erwachsenen verursachen, sondern auch nur 60 % der Menschenwürde eines Erwachsenen haben – also nicht nur die Schuhgröße, sondern auch die Menschenwürde mit dem Alter zunimmt. Betrachtet man den Umgang mit sehr alten Menschen mag man fast meinen, die Menschenwürde folgte in unserem Land einer Gauß'schen Verteilung – mit steigendem Lebensalter zunehmend und dann im hohen Alter wieder abnehmend. Ich glaube, die Krankenversicherten in Deutschland würden gerne anstatt 8 auch 9 Euro Zusatzgebühr entrichten, wenn hierdurch die flächendeckende Palliativversorgung von Kindern und auch von Erwachsenden durch (pädiatrische) PCTs gesichert wäre. Und ich bin weiterhin der festen Überzeugung, dass die Versicherten eigentlich nur 7 Euro an Zusatzgebühr entrichten müssten, wenn die flächendeckende spezialisierte ambulante Palliativversorgung schon umgesetzt wäre, weil sich durch den Wegfall vieler verzweifelter Therapieeskalationen am Lebensende sogar Geld in der stationären Versorgung sparen ließe.

Schließen möchte ich mit einem weiteren Zitat aus dem GBA-Bericht 2009: „Mehr als die Hälfte der Krankenkassen gaben an, besondere vertragliche Regelungen zur Versorgung von Kindern und Jugendlichen vereinbart zu haben. Bis auf wenige Einzelfälle wurden keine Angaben zu konkreten vertraglichen Regelungen gemacht, sondern auf in Zukunft geplante Vertragsabschlüsse verwiesen.” Es ist zu hoffen, dass sich diese Regelungen an den realen, besonderen Belangen von todkranken Kindern und Jugendlichen sowie ihrer Familien orientieren und Gerichte nicht in einigen Jahren ausführen müssen (wie das BVG zu den Hartz-IV-Berechnungen für Kinder; BVerfG, 1 BvL 1 / 09 vom 9.2.2010), dass die bisherigen Regelungen zu intransparent seien und sich zu wenig an der Realität orientieren. Die Realität eines Kindes mit einer lebenslimitierenden Erkrankung ist leidvoll, die Symptomlinderung komplex. Zeit auf eine Rechtsprechung der Bundesgerichte zur SAPV zu warten, haben diese Kinder nicht.

Boris Zernikow

Vodafone Stiftungsinstitut für Kinderschmerztherapie und Pädiatrische Palliativmedizin, Vestische Kinder- und Jugendklinik Datteln

Dr.-Friedrich-Steiner-Straße 5

45711 Datteln

Email: B.Zernikow@kinderklinik-datteln.de