Klinische Neurophysiologie 2009; 40(2): 105-106
DOI: 10.1055/s-0029-1225322
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Themenheft Interventionelle Neurophysiologie

Focus: Interventional NeurophysiologyJ. Claßen, U. Ziemann
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Publication Date:
01 July 2009 (online)

Die Klinische Neurophysiologie umfasst traditionell ein breites Repertoire von elektrophysiologischen und in neuerer Zeit auch bildgebenden Messmethoden und ist der Funktionsdiagnostik des Nervensystems verpflichtet. In mehreren Bereichen der neuropsychiatrischen klinischen Neurophysiologie sind jedoch bereits seit langem, beschleunigt in den letzten beiden Dekaden, therapeutische Verfahren entwickelt worden, die auf der Einbringung elektrischen Stroms in Teile des Nervensystems beruhen. Hieraus hat sich weitgehend unabhängig von den klinisch-diagnostischen Anwendungen neurophysiologischer Methoden und die Grenzen klassischer Disziplinen überschreitend ein neues Gebiet entwickelt, das in Analogie zur diagnostischen Neurophysiologie als „Interventionelle Neurophysiologie” bezeichnet wird. Es wird durch die Absicht definiert, mithilfe extrinsischer oder intrinsischer elektrischer Stimulation die Signaltransmission im Nervensystem so zu ändern, dass die Aktivitäten von Neuronen oder neuronalen Verbünden moduliert werden. Ziel der Modulation ist die Erzeugung therapeutischer Effekte. Die Interventionelle Neurophysiologie ist ein sich schnell entwickelndes, multidisziplinäres biomedizinisches und technologisches Gebiet, das neben der Neurologie die angrenzenden Fachgebiete der Neurochirurgie, der Anästhesie, der Kardiologie, der Hals-Nasen-Ohren Medizin, Ophthalmologie und der Neurophysiologie berührt.

Die im vorliegenden Themenheft versammelten Beiträge sollen beispielhaft einen aktuellen Überblick über einige der oben angesprochenen Methoden geben. Vorangestellt ist ein Fort- und Weiterbildungsartikel (Interventionelle Neurophysiologie, Claßen und Ziemann), der eine Einführung in Begriffsbestimmungen, Systematik, neurophysiologische Grundlagen und regulatorische sozioökonomische und ethische Gesichtspunkte gibt. Die folgenden Artikel sind thematisch auf therapeutische Anwendungen interventionell-neurophysiologischer Methoden bei neurologisch bedingten Bewegungsstörungen, unterstützende Therapie während Neurorehabilita-tion nach Schlaganfall und psychiatrische Erkrankungen fokussiert. Volkmann (Die tiefe Hirnstimulation zur Behandlung neurologischer Bewegungsstörungen) bespricht den aktuellen Stand der Tiefen Hirnstimulation bei der Behandlung des medikamentös therapierefraktären behindernden essentiellen Tremors, dem fortgeschrittenen M. Parkinson mit Spätkomplikationen der medikamentösen Parkinsontherapie und der Dystonie. Eine interessante Beobachtung ist, dass die Tiefe Hirnstimulation, deren Wirksamkeit möglicherweise durch eine Vielzahl von Mechanismen vermittelt wird, bei den unterschiedlichsten Tremorformen wirksam ist. Aus dieser Tatsache wird deutlich, dass die Interventionelle Neurophysiologie Beiträge zum Verständnis der Pathophysiologie von neurologischen Erkrankungen, in diesem Fall der Entdeckung erstaunlicher Gemeinsamkeiten liefern kann. Hierdurch wird der Kreis zur Klinischen Neurophysiologie als diagnostischer Methode in gewisser Weise geschlossen. Bei der Behandlung des späten Parkinsonsyndroms kommt es auf die strenge Auswahl der behandelten Patienten an. Eine Besonderheit der therapeutischen Wirksamkeit der Tiefen Hirnstimulation bei Patienten mit generalisierter Dystonie ist die Tatsache, dass ihre Wirkung sich mit langer u. U. mehrere Monate währender Latenz aufbaut. Hieraus lässt sich ableiten, dass neuroplastische Veränderungen ein wesentlicher Bestandteil der Wirkungen interventionell neurophysiologischer Verfahren sein können. Peller und Siebner (Transkranielle Hirnstimulation zur Behandlung von Bewegungsstörungen) fassen den gegenwärtigen Kenntnisstand der Behandlung von Bewegungsstörungen mit repetitive transkranieller Magnetstimulation zusammen. Gemäß den Ergebnissen erster randomisierter Studien entfaltet die repetitive Magnetstimulation über dem primär-motorischen Kortex eine therapeutische Wirksamkeit, die von der wiederholten Anwendung der Stimulation abhängt und durch in größeren Abständen applizierte Auffrischungsitzungen erhalten werden muss.

Hummel (Hirnstimulation in der Neurorehabilitation) liefert einen Überblick zum Einsatz der repetitiven transkraniellen Magnetstimulation und insbesondere der transkraniellen Gleichstromstimulation zur additiven Unterstützung neurorehabilitativer Maßnahmen nach Schlaganfall. Der Autor ist selbst ein Pionier der klinisch-therapeutischen Anwendung dieser neuen Methoden. Es wird deutlich, dass dieses dynamische Forschungsfeld noch am Anfang der Entwicklung steht, aber bereits zahlreiche prinzipiell vielversprechende Machbarkeitsstudien mit kleinen Patientenzahlen vorliegen. Derzeit werden auch in Deutschland multizentrische standardisierte Studien durchgeführt (z. B. NETS TRIAL: „Neuroregeneration enhanced by TDCS in stroke”, Koordinator: Prof. Gerloff, Hamburg, gefördert im Programm „Klinische Studien” der DFG), die in Design und Qualität pharmakologischen klinischen Phase II Studien entsprechen und in wenigen Jahren eine Antwort auf die therapeutische Effizienz dieser Stimulationsmethoden in der Neurorehabilitation von Schlaganfallpatienten erwarten lassen. Büntjen und Voges (Rückenmarkstimulation zur Behandlung von Spastik) beschreiben den Einsatz der Rückenmarkstimulation bei Spastizität. Die Rückenmarkstimulation hatte mit dieser Indikation eine Blütezeit in den 80-iger Jahren und scheint in ihrem Rang als therapeutische Methode von den neuropharmakologischen Verfahren (Baclofenpumpe) abgelöst zu sein. Die Autoren heben hervor, dass neuere Stimulationsverfahren vielversprechendes, noch unerforschtes Potential besitzen, eine spezifische neurophysiologische Therapie zu ermöglichen, die weitgehend frei von systemischen Nebenwirkungen ist. Es wird erkennbar, dass die Patientenauswahl entsprechend der individuellen Pathophysiologie vermutlich ein Faktor ist, der Indikation und Erfolgsrate entscheidend bestimmen wird.

Schließlich schlagen Pogarell und Padberg (Biophysikalische Therapieverfahren in der Psychiatrie – Elektrokonvulsionstherapie und repetitive transkranielle Magnetstimulation) einen Bogen von der seit Jahrzehnten etablierten, gleichwohl immer noch weiter verfeinerten Elektrokonvulsionstherapie bis zur transkraniellen Magnetstimulation als einem neuen Therapieverfahren zur Behandlung psychiatrischer Störungen. Auch hier sind die derzeitigen Bemühungen hervorzuheben, von z. T. vielversprechenden Beobachtungen in Machbarkeitsstudien mit kleinen Patientenzahlen die therapeutische Anwendung der transkraniellen Magnetstimulation auf die Ebene standardisierter multizentrischer Studien an größeren Patientenpopulationen zu heben. Ein Beispiel hierfür ist die von der DFG im Rahmen der Förderlinie „Klinische Studien” unterstützte Studie: „Efficacy of repetitive transcranial magnetic stimulation for the treatment of negative symptoms in schizophrenia” (Koordinator: Prof. Dr. Peter Falkai, Georg-August-Universität Göttingen).

Wir sind uns bewusst, dass die Interventionelle Neurophysiologie in diesem Themenheft nicht vollständig abgebildet wird. Z. B. fehlt eine Darstellung neuroprothetischer Verfahren (z. B. Cochlear-Implant, Retina-Chip oder Brain-Computer-Interface). Vollständigkeit war aber auch nicht die Intention. Das Themenheft soll vielmehr die Funktion eines „Primers” haben, der schlaglichtartig über neue Entwicklungen in diesem sich sehr dynamisch entwickelnden wissenschaftsmedizinischen Gebiet informiert und zur vertiefenden Beschäftigung einlädt.

Leipzig und Frankfurt, im Mai 2009   Joseph Claßen und Ulf Ziemann

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. J. Claßen

Klinik für Neurologie

Universitätsklinikum

Universität Leipzig

Liebigstr. 20

04103 Leipzig

Email: joseph.classen@medizin.uni-leipzig.de