Diabetes aktuell 2009; 7(5): 214-215
DOI: 10.1055/s-0029-1237487
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Hohe Dunkelziffer bei Diabetes - Wir sehen nur die Spitze des Eisbergs

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Publication Date:
26 August 2009 (online)

 

Bild: Corel Stock

Die hohe Dunkelziffer bei Diabetes mellitus lässt die Kosten für das Gesundheitssystem dramatisch steigen. Nach den Daten der 44. Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) waren im Jahr 2007 in Deutschland 7 379 200 Menschen oder 11,8 % der Gesamtbevölkerung an Diabetes erkrankt. Täglich muss mit 1000 Neuerkrankungen gerechnet werden. Die Dunkelziffer wird auf ca. 2-3 Millionen Menschen geschätzt. Daraus ergeben sich Kosten für das Gesundheitswesen von 18 Milliarden Euro. Daten aus den USA belegen, dass die noch nicht diagnostizierten Diabetesfälle (63 Millionen) das Gesundheitssystem mit 18 Milliarden US-Dollar pro Jahr belasten. Über diese kritische Situation für das Gesundheitssystem sprach im Auftrag von Diabetes aktuell Susan Röse mit Prof. Dr. Dirk Müller-Wieland, der die Abteilung für Allgemeine Innere Medizin mit den Schwerpunkten Gastroenterologie, Endokrinologie, Diabetes und Stoffwechsel an der Asklepios Klinik St. Georg in Hamburg und das neu gegründete Institut für diabetologische Versorgungsforschung leitet.

? Herr Professor Müller-Wieland, Sie interessieren sich besonders für die molekularen Grundlagen metabolisch bedingter kardiovaskulärer Risikofaktoren, wie z. B. Veränderungen des Fettstoffwechsels bei Diabetes mellitus, Insulinresistenz, metabolisches Syndrom, Fettverteilung und Fettleber. Sie haben vor kurzer Zeit gemeinsam mit Frau Prof. Beisiegel vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) und in Kooperation mit vielen Arbeitsgruppen ein großes Projekt zu diesem Thema gestartet, genannt LiDia (Lipide und Diabetes). Dieses Projekt besteht aus 3 parallelen Säulen, die sich gegenseitig befruchten und ergänzen: Forschung an Zellmodellen, transgenen Mausmodellen und klinischen Kohorten. Die größte Kohorte in diesem Projekt ist LUPS (Lufthansa Präventions-Studie) bei der zusammen mit der Lufthansa Technik GmbH in Hamburg bereits über 1000 Probanden in wenigen Monaten rekrutiert wurden. Ziel soll u. a. sein, bei diesen Menschen die Entwicklung von Stoffwechselveränderungen und Ernährungsweise über mindestens 10 Jahre prospektiv zu analysieren. Das ist ja schon ein Ansatz für unser heutiges Thema, die hohe Dunkelziffer bei den diabetischen Stoffwechselstörungen. Wie sieht das denn bei uns im Vergleich mit den USA aus?

Die Dunkelziffer ist in beiden Ländern etwa vergleichbar, sie liegt bei ca. 100 % - das bedeutet, dass auf jeden bekannten Diabetes ein Patient kommt, der noch nichts von seinem Diabetes weiß! Diese Erfahrung machen wir auch bei der täglichen Untersuchung von Patienten in unserem interdisziplinären Herz-Gefäß- und Diabetes-Zentrum der Asklepios Klinik St. Georg.

? Warum ist denn die Dunkelziffer so hoch?

Eine reine Erhöhung des Blutzuckers tut in aller Regel nicht weh: Das heißt, der Patient kommt erst in Behandlung, wenn es schon zu spät ist, wenn z. B. ein Herzinfarkt, eine Sehstörung, Nervenschmerzen, etc. aufgetreten sind. Deshalb versuchen wir zusammen mit niedergelassenen Kollegen und Kostenträgern transsektorale Programme aufzulegen, um unseren Beitrag zur Senkung der Dunkelziffer zu leisten.

? Welche Auswirkungen hat diese hohe Dunkelziffer auf unser Gesundheitssystem?

Die hohe Dunkelziffer verursacht schleichende Kosten, d. h. Kosten entstehen, sind aber als solche nicht erfasst.

? Es wird doch soviel getan, da heißt es "handeln, helfen heilen", Prävention, Gesundheitstelefon, es gibt DiabetesDE usw. Was ist jedoch mit der Aufklärung von Menschen, die noch gar nicht wissen, dass sie Diabetes haben? Wird die Aufklärung und Information bei einer so hohen Dunkelziffer vernachlässigt?

Dies ist in der Tat ein Problem! Wir müssen alle Ebenen erreichen, Politik, Kostenträger, Ärzteschaft, medizinische Pflege- und Hilfsberufe, Eltern, Kinder, Lehrer, etc. etc. Zudem müssen wir auch über Strategien nachdenken, wie wir diejenigen erreichen, die in der Regel nicht erreichbar sind oder sich nicht erreichen lassen. Wir müssen vorhandene Strategien modifizieren, um auch die vielen Mitbürger mit unterschiedlichen Migrations-Hintergründen zu erreichen.

Es muss aber auch mit der "Verharmlosung" aufgehört werden. Diabetes und Übergewicht sowie insbesondere die Komplikationen sind nicht allein Folge eines "freiwillig gewählten" ungesunden Lebensstils. Wenn der Nachbar einen Herzinfarkt erlitten hat, ist man schockiert. Die Prognose bei Feststellung eines Diabetes ist aber in aller Regel vergleichbar schlecht!

? Wie kann eine optimale Aufklärung und Information der Gesamtbevölkerung aussehen?

Einiges habe ich eben bereits erwähnt. Wichtig ist, nicht zu sagen was ein Betroffener angeblich falsch gemacht hat, also ihn und seinen Lebensstil fast diskriminierend zu isolieren, sondern zu klären, was wir als Gemeinschaft und der Betroffene aktiv tun können, um den Krankheitsverlauf und die Komplikationen in möglichst günstige Perspektiven zu lenken.

? Wie kann man die Früherkennung von Diabetes fördern?

Zum Beispiel durch die Etablierung einer "Check up"-Untersuchung, wie den Pass beim Zahnarzt oder die präventive Koloskopie und eine adäquate Vergütung einer professionellen therapeutischen Lebensstil-Beratung bei Auffälligkeiten. Ärzte wollen nicht die Menschen krank machen, so ein Missverständnis hört man manchmal, sondern wir wollen die bereits Kranken früh erkennen. Die frühe und effektive Therapie ist die Chance für Menschen mit Diabetes.

? Kann man bei einer so hohen Dunkelziffer von einer "Diabetes- Endemie" sprechen?

Eindeutig ja - und die Zahl der Betroffenen steigt weiter!

? Können Interventionsstrategien, wie zum Beispiel das Eingreifen im Frühstadium erst zum Zuge kommen, wenn die Diagnose bereits feststeht? Wie sieht es mit einem gesunden Lebensstil aus, der außer einer gesunden, ausgewogenen Ernährung mit frischem Obst und Gemüse auch viel Bewegung beinhalten sollte? Ist er nicht der beste Weg das Gesundheitssystem zu entlasten?

Ja, aber es müssen auch positive Anreize geschaffen werden. Wir brauchen keine "Beratung" oder "Diät", wir müssen darüber aufklären, was eine gesunde ausgewogene Ernährung ist und vor allem auch zeigen, dass sie schmeckt. Dies müssen wir früh tun, es sollte in die Schulen getragen werden; so wie wir in der ersten Klasse der Schule bzw. des Kindergartens lernen, wie man über die Straße geht. Dies macht man nie wieder falsch, weil sonst Gefahr droht; darüber denken wir auch nicht mehr nach, es ist uns im wahrsten Sinne des Wortes in "Fleisch und Blut" übergegangen. Im Übrigen, Bewegung heißt nicht gleich Sport, Marathon, Fitness-Club; es ist die Steigerung der täglichen Aktivität, heißt: Treppensteigen, Fahrradfahren, zu Fuß gehen, etc.. Wir müssen wieder selbst spüren, dass dies nicht "unbequem", sondern positiv - d. h. TOLL ist!

Herr Professor Müller-Wieland, wir danken Ihnen für das Gespräch.

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