Dtsch Med Wochenschr 2009; 134(51/52): 2632-2637
DOI: 10.1055/s-0029-1243072
Weihnachtsheft

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Wie der Arztfinger zum Goldfinger wurde

How the physician’s finger became a goldfingerR. Jütte1
  • 1Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung
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Publication Date:
09 December 2009 (online)

Eine Studie aus dem Institut für Rechtsmedizin der Universität Hamburg untersuchte 57 Schadensfälle mit Hand- bzw. Fingerverletzungen, die verschiedenen Versicherungsgesellschaften in den 1990er Jahren als Unfälle gemeldet worden waren [15]. In mehr als der Hälfte der Fälle waren es Ärzte, die eine Versicherungsprämie infolge einer Unfallverletzung einforderten. Darunter war auch der eines 45-jährigen Chirurgen, der sich bei Heimwerkerarbeiten in seinem Haus an einer Kreissäge den linken Zeigefinger abtrennte und Mittel- und Ringfinger ebenfalls verletzte (Abb. [1]). Den Unfallhergang schilderte er wie folgt: In einem Werkstattraum seines Hauses im Keller habe er eine Abdeckplatte aus Sperrholz für einen Schrank passend sägen wollen und dabei die Platte mit an beiden Händen gespreizten Fingern gegen das Sägeblatt geführt und dieses dabei leicht nach unten und rechts gedrückt. Beim Sägen habe er einen leichten Widerstand vernommen, was er auf das Verkanten zurückführt habe, worauf er etwas stärker mit der linken Hand nach rechts gedrückt habe. Das Werkstück habe nachgegeben und seine Hand sei in das rotierende Sägeblatt gerutscht. Wegen eines besonderen Passus in seiner Unfallversicherung („Gliedertaxe”) war bei Verlust oder Funktionsunfähigkeit eines Daumens oder Zeigefingers ab 50 % ein Invaliditätsgrad von 100 % in Anschlag zu bringen (Abb. [2] ). Das rechtsmedizinische Gutachten ergab, dass das Verletzungsbild mit der Schilderung des Unfallhergangs nicht zu erklären war. Sowohl das Landgericht Hamburg als auch das Landgericht München wiesen die Klage daher ab. In der nächsthöheren Gerichtsinstanz kam es dann zu einem Vergleich. Es ging dabei um eine Gesamtversicherungssumme von über 1 Million DM. Hintergrund dieses Falles war das seit 1988 bestehende Unfallversicherungsangebot einer großen deutschen Versicherungsgesellschaft an Ärzte aller Fachrichtungen. Ein Spezialvertrag sah bei Verlust oder Funktionseinschränkung eines Zeigefingers (auch der Nicht-Gebrauchshand) ab 50 % einen Invaliditätsgrad von 100 % vor. Angesichts der geringen Jahresprämie (rund DM 900, umgerechnet 450 Euro) nahmen viele Ärzte dieses Angebot an und sicherten sich so im Invaliditätsfall eine Entschädigung in Höhe von einer Million DM zu.

Abb. 1 Rekonstruktive Darstellung des Unfalls.

Abb. 2 Gliedertaxe für Ärzte.

In der Folgezeit traten bei dieser Berufsgruppe gehäuft Verletzungen – insbesondere des Zeigefingers der Nicht-Gebrauchshand – auf [30] . Die Schadenshäufigkeit überraschte die Versicherungsgesellschaften. Aufgrund der ungewöhnlichen Zunahme isolierter Zeigefingerverletzungen der Nicht-Gebrauchshand änderten die betroffenen Versicherungsgesellschaften zum 1. Januar 1995 ihre Versicherungsbedingungen. Ab diesem Zeitpunkt wurde nur noch bei einer mindestens 50%-igen Funktionseinschränkung des Zeigefingers der Gebrauchshand eine volle Invaliditätsentschädigung fällig. In der Folgezeit war ein deutlicher Schadensrückgang zu verzeichnen.

Nicht wenige Ärzte ließen sich also in den 1990er Jahren in betrügerischer Absicht ihre Finger auf diese Weise vergolden. Meist waren es Daumen oder Zeigefinger, die aufgrund dieser speziellen Versicherungsprämie zum Goldfinger mutierten. Dabei galt als „Arzt”- oder „Goldfinger” lange Zeit der Ringfinger. Und von dieser Tradition eines fast vergessenen Fingers handelt der folgende Ausflug in die Medizin- und Kulturgeschichte.

Literatur

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Prof. Dr. Robert Jütte

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