DO - Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 2010; 8(03): 4-5
DOI: 10.1055/s-0030-1249134
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Im Gespräch mit ...Georg Harrer

Thorsten Fischer
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Publication Date:
20 July 2010 (online)

Der Österreicher Georg Harrer ist Arzt für Allgemeinmedizin, Facharzt für Anästhesie und Intensivmedizin und Osteopath. Ab 1997 begann er, mit dem amerikanischen Osteopathen und Notfallmediziner Dr. Stephen Typaldos, dem Begründer des Fasziendistorsionsmodells (FDM), zusammenzuarbeiten. 2001 wurde Dr. Harrer von Typaldos zum Lehrbeauftragten für FDM in Europa ernannt. Mittlerweile gibt er weltweit Kurse in FDM und ist Vizepräsident der European FDM Association (EFDMA), die 2006 von ihm und einigen engagierten Mitstreitern gegründet wurde. Er lebt in Wien, wo er in eigener Praxis und in der Krankenanstalt Rudolfstiftung arbeitet.

Wann und wie sind Sie zu FDM und zur engen Zusammenarbeit mit Stephen Typaldos gekommen?

Im Rahmen meiner Osteopathieausbildung an der Wiener Internationalen Schule für Osteopathie (WSO) lernte ich 1997 FDM und seinen „Erfinder“ Stephen Typaldos kennen. Die WSO war damals die erste Schule weltweit, die Typaldos einlud, ein Seminar zu halten. Einerseits war die von ihm vorgestellte Methode und ihre pathophysiologische Grundlage, eben FDM, einleuchtender als alles, was ich bis dahin gehört hatte. Andererseits verband mich das berufliche Umfeld in besonderem Maße mit Typaldos. Er war zu dieser Zeit Notfallmediziner in Fort Worth (Texas). Ich war Notfallmediziner an der Wiener Universitätsklinik. Noch im selben Jahr fuhr ich zu Typaldos, der mittlerweile in Bangor, Maine, eine Praxis betrieb und sich ausschließlich auf die Umsetzung von FDM konzentrierte. Nach mehreren Wochen bei ihm in der Praxis stand für mich fest, dass das dort Erlebte mein weiteres Leben verändern würde. In den folgenden Jahren entwickelte sich neben einer engen beruflichen Zusammenarbeit eine tiefe private Freundschaft. Im September 2001, unmittelbar nach den Terroranschlägen, die die US-Bürger tief getroffen haben, rief mich Typaldos an. Er ersuchte mich, in seinem Namen alle Seminare in Europa zu halten, da er als Vater von 4 Kindern Bedenken hatte, in dieser Situation nach Europa zu fliegen.

Bis zu seinem frühen, unerwarteten Tod in 2006 folgten wiederholte private und berufliche Treffen sowie gemeinsame Seminare und Kongresse zum Thema FDM. Sein Tod war für mich persönlich ein großer Verlust, jedoch empfinde ich das Glück, diesen großen Arzt kennengelernt und mit ihm gearbeitet zu haben, als wesentlich wichtiger.

Der Umstand, dass Typaldos mich bereits früh mit der Verbreitung von FDM in Europa betraute, führte auch dazu, dass nach seinem Tod, anders als in seiner Heimat, die Lehre und Verbreitung von FDM in gleichem Maße weiterging.

Was ist Ihr persönlicher Antrieb, dass Sie sich so intensiv für FDM engagieren?

Stephen Typaldos führte mir vor Augen, dass mit FDM nicht nur das Geschenk verbunden ist, Patienten unmittelbar und ohne technische Hilfsmittel oder Medikamente in einem bis dahin ungeahnten Ausmaß helfen zu können, sondern auch die Bürde, dies zu tun. Solange man nicht weiß, was zu tun ist, ist es kein Problem, wenn man nicht hilft. Dies ändert sich aber schlagartig, sobald man die erforderlichen Maßnahmen kennt.

Bald musste ich aber einsehen, dass meine Hände nicht in der Lage sind, all den Menschen zu helfen, die Schmerzen haben und daher ihren Beruf oder ihren privaten Alltag nicht mehr bewältigen können. Es geht nur, wenn man diese Bürde auf viele Hände aufteilt. Das ist die Triebfeder hinter meiner Lehrtätigkeit. Auch wusste ich, dass eine Methode oder Idee erst ab einer „kritischen Masse“ stabil überleben kann, andernfalls gerät sie wieder in Vergessenheit, egal wie erfolgreich die einzelnen Behandlungen sind. In den frühen Jahren war das eine wesentliche Motivation für mich. Heute sehe ich zumindest in Europa die Sache viel entspannter, da FDM bereits viele Ärzte und Osteopathen erreicht hat und deshalb weiter bestehen wird. Auch wenn wir erst am Anfang eines Weges stehen, so hat sich die Zahl der FDM-Anwender in den letzten Jahren vervielfacht und es ist mit der EFDMA eine stabile Basis geschaffen worden, die FDM als Heimat dient. Meine Familie freut sich, dass ich mein persönliches Engagement von Jahr zu Jahr reduzieren kann und ich stelle mit Freude fest, dass die Bürde, auf mehrere Schultern aufgeteilt, leichter zu tragen ist.

Wie verbinden Sie Ihr Familienleben mit dem Engagement für FDM?

Diese Frage sollte man lieber meiner tapferen Frau und meinen 3 Töchtern stellen. Einerseits fällt es mir jedes Mal schwer, für ein Seminar ein Wochenende lang meine Familie zu verlassen. Andererseits muss ich meinen Kindern vorleben, dass ein Mensch seinen Traum leben und die ihm gestellten Aufgaben so gut wie möglich erfüllen soll. Die innere Ausgeglichenheit, die sich durch eine erfüllende und sinnstiftende Aufgabe im Leben einstellt, kommt, so hoffe ich, letztendlich wieder meiner Familie zugute.

Sehen Sie noch Potenzial zur Erweiterung von FDM, z. B. dass es irgendwann mehr als 6 Distorsionen gibt?

Die Erweiterung im Sinne einer Ausweitung auf mehr Distorsionen ist für mich kein Ziel. Vielmehr die Anwendung von FDM in seiner bestehenden Form auf mehr Krankheitsbilder und somit mehr Patienten. Sollte jemand eine 7. Distorsion entdecken, wird man das diskutieren, aber ich erwarte mir davon keine wesentliche Innovation. Das Potenzial sehe ich v. a. in der Verbreitung und Erweiterung der Techniken sowie in der Integration von FDM in Medizin und Osteopathie.

Stimmt es, dass Stephen Typaldos Musicals geschrieben hat und Sie einmal bei einer Aufführung mitgespielt haben?

Ja, Stephen Typaldos hatte neben der Medizin viele Interessen. Sehr eindrucksvoll waren seine Aktivitäten als Komponist. Er komponierte 5 Musicals und zuletzt auch Filmmusik. Bei all seinen Musicals schrieb er auch das Libretto selbst. Ich fand seine Musik immer einzigartig und stilistisch völlig eigenständig. Als er das erste seiner Musicals „Maine Girl on Mars“ 2002 in Ellsworth, Maine, auf die Bühne brachte, beschlossen meine Frau und ich, uns diese Aufführung nicht entgehen zu lassen. Wenige Tage vor dem Abflug bat mich Typaldos in einer mittelgroßen Rolle einzuspringen. Das war eine große Herausforderung für mich, da ich weder singen kann, noch gut im Auswendiglernen von Texten bin. Es gelang mir aber erfolgreich, diese Schwächen vor dem amerikanischen Publikum geheim zu halten. Das Musical bekam gute Kritiken. Die 3 Vorstellungen im ausverkauften Theater waren eines der schönsten Abenteuer meines Lebens. Heute sind die Musikrechte im Besitz von Alexander Typaldos, seinem Sohn.

Vor Kurzem haben Sie den 1. Kurs in Afrika gegeben und wollen dort einen eigenen Verband gründen. Wie sehen Sie das Potenzial für FDM dort?

Als ich im April 2009 einen FDM-Kurs in San Diego, Kalifornien, hielt, lernte ich dort Dr. H. Diallo, einen Kollegen aus Burkina Faso, kennen, der auf persönliche Einladung von Byron Perkins D.O., dem Präsidenten der American FDM Association, teilnahm. Er sagte: „FDM ist nett für Europa und USA, aber gemacht ist es für Afrika. Wir haben so gut wie keine medizinischen Einrichtungen, aber genug Hände.“ In den folgenden Monaten planten wir den ersten FDM-Kurs auf afrikanischem Boden, der im Januar in Ouagadougou, der Hauptstadt Burkina Fasos, stattfand. Es nahmen 35 Ärzte und Physiotherapeuten unter der Schirmherrschaft eines Vertreters des Gesundheitsministers teil. Die Akzeptanz war sehr groß. An den Nachmittagen haben wir jeden Tag zahlreiche Patienten behandelt (alle selbstverständlich unentgeltlich). Das große Interesse und die Begeisterung der Kursteilnehmer, die teilweise unter enormen Strapazen zum Kurs angereist waren, beeindruckten mich sehr.

Dr. H. Diallo gründete zwischenzeitlich die AFDMS (African Fascial Distorsion Model Society). Es ist eine enge Zusammenarbeit zwischen der EFDMA, den Kollegen in Burkina Faso und weiteren afrikanischen Ländern geplant.

Für die Menschen in Burkina Faso stellt die allgemeine Situation eine für uns im wohlhabenden Europa kaum vorstellbare tägliche Herausforderung dar. Aufgrund der schwachen Wirtschaft leiden die Menschen unter dem ständigen Mangel an Mitteln, Werkzeugen, Medikamenten, Gerätschaften usw. Im FDM existiert dieser Nachteil plötzlich nicht mehr, hier haben wir auch nur 2 Hände. Den Kursteilnehmern dieses neue Selbstbewusstsein zu ermöglichen, war meine schönste Belohnung.

Gibt es zukünftige Projekte und Pläne, an denen Sie arbeiten?

Ja, derzeit arbeite ich mit einem Team engagierter Mitstreiter an einem großen Projekt. Im September 2011 wird in Wien der 5. Internationale FDM-Kongress stattfinden. Wir freuen uns schon darauf, die FDM-Kollegen aus Amerika, Asien und jetzt auch aus Afrika in meiner Heimatstadt willkommen zu heißen und weiteren internationalen Austausch zu ermöglichen. In den nächsten Monaten werden alle Informationen dazu auf unserer Website www.fdm-europe.com veröffentlicht.

Lieber Herr Dr. Harrer, vielen Dank für das Gespräch!

Online zu finden unter: www.dx.doi.org/10.1055/s-0030-1249134

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Abb. 1 Georg Harrer und Stephen Typaldos während eines FDM-Seminars am Deutschen Fortbildungsinstitut für Osteopathie, DFO, in Neutraubling in 2003. Foto: © Privat