Der Klinikarzt 2010; 39(2): 71
DOI: 10.1055/s-0030-1249766
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

CED: Paradigmen und Paradoxien

Eduard F. Stange
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Publication Date:
01 March 2010 (online)

Die chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (CED) Morbus Crohn und Colitis ulcerosa sind das große verbliebene Enigma der Gastroenterologie. Die Erkrankung beginnt meist im jungen Erwachsenen-, oft aber auch schon im Kindesalter. Die zumindest phasenweise massiv eingeschränkte Lebensqualität kontrastiert mit der fast normalen Lebenserwartung. Daher sehen wir, nach dem massiven Anstieg der Erkrankungsrate in den letzten Dekaden, viele ältere Patienten mit langem, trotz aller therapeutischer Bemühungen komplizierten Verlauf: mit häufigen Rezidiven, resezierenden Operationen, Fistelproblemen, Inkontinenz und bisweilen Infertilität. Steroidabhängigkeit und -missbrauch führte zu schwersten Nebenwirkungen und häufige Operationen zu Kurzdarmsyndrom.

Es galt als ausgemacht unter den Experten, dass diese Erkrankungen durch eine Überreaktion des adaptiven Immunsystems (T-Zellen) ausgelöst werden. Daher wurde konsequent mit Steroiden und Immunsuppressiva therapiert. Zytokine wurden erforscht, waren natürlich ebenfalls „dysreguliert“ und die daraufhin konzipierte Therapie mit anti-TNF-Antikörpern funktioniert bei beiden Erkrankungen – leider nur selten langfristig. Natürlich sind diese neuen sog. Biologika bei sonst therapierefraktären Patienten ein Segen. Aber ein echter Durchbruch misst sich beispielsweise an der Operationsrate: unsere Chirurgen haben allerdings immer noch reichlich zu tun. Und die Nebenwirkungen der immunsuppressiven Therapie sind gravierend, bei opportunistischen Infektionen sogar bisweilen tödlich.

Warum ist das so? Weil wir nicht die Ursache der Erkrankung, also kausal therapieren, sondern Epiphänomene. Wir haben in der Zwischenzeit gelernt, dass nicht die adaptive, sondern die angeborene Immunität im Mittelpunkt und vermutlich am Anfang steht. Nicht die adäquate Entzündungsreaktion in der Mukosa ist abnorm, sondern die defekte Barriere gestattet eine langsame Invasion der normalen Darmflora: diese löst dann die für primär gehaltenen Entzündungskaskaden aus. Für dieses neue Paradigma spricht die Mehrzahl der bisher mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen, insbesondere Morbus Crohn assoziierten Mutationen. Unterstützt wird die Genetik durch die Entdeckung eines Defensindefekts der Panethzelle im Dünndarm und der Epithelzelle im Colon. Dies erklärt, warum die Immunabwehr nicht gegen das körpereigene Gewebe, sondern gegen die Darmbakterien gerichtet ist. Keiner dieser Barrieredefekte ist aber bisher behandelbar.

Das führt zu der paradoxen Situation, dass wir die Krankheitsentstehung neuerdings besser verstehen, aber immer noch „falsch“ therapieren. Quo vadis? Neue Therapieansätze müssen entwickelt werden, die zu einer Verbesserung der antibakteriellen Barriere führen: Antibiotika, Probiotika, Lecithin oder eben, das wäre erstmals wirklich innovativ und wohl sogar kausal, Defensine.

Prof. Dr. med. Eduard F. Stange

Stuttgart