Zeitschrift für Palliativmedizin 2010; 11(2): 39-40
DOI: 10.1055/s-0030-1253114
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

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Publication Date:
25 March 2010 (online)

 

Manfred Gaspar, St. Peter-Ording

die Auseinandersetzung mit Leid, Tod, Schmerz und Sterben hat eine lange Tradition. Leid kann geradezu als eine Art Humus menschlicher Kultur gelten. Viele Autoren betrachten insbesondere den Schmerz als Grundlage jeder Kultur; nicht wenige gehen davon aus, dass die menschliche Kultur aus dem Schmerz entsteht, genauer: aus der Artikulation des Schmerzes. Ohne ihn keine Sprache, keine Liebe, keine Poesie, keine Kunst - ohne Schmerz kein Denken und kein Gedächtnis. Der unnachahmlichen Rhetorik von Nietzsches "Fröhlicher Wissenschaft" verdanken wir die Erkenntnis: Der Schmerz macht Hühner und Dichter gackern. Und Schmerz steht hier durchaus als Synonym für Leid. Ein Blick in die Regale der Buchhandlungen zeigt eine große Zahl von Werken, die die Krankheitsgeschichten - insbesondere die von Krebserkrankungen - der Autoren enthalten. Ich erwähne an dieser Stelle Christoph Schlingensiefs Tagebuch seiner Krebserkrankung mit dem wundervollen Titel "So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein".

Ein wenig älter, aber nicht weniger aktuell, sind die "K-Gedichte" von Robert Gerhard. Er schrieb sie als Patient, der zusammen mit seinem Darmkrebs-Befund die Auskunft erhielt, dass er voraussichtlich nie mehr wirklich gesund werden würde, dass daher die medizinischen Maßnahmen, die man ihm anbieten könne, wohl letztlich nur palliativ sein könnten. In dem Gedicht "Zweierlei Therapie" fasste Gernhard den Schock, den dies für ihn bedeutete, in den sarkastischen Vers: "Spricht er [d.h. der Arzt] von ,palliativ‘, / hängt der ganze Segen schief". Gernhard erläuterte später, dass er die "K-Gedichte" schrieb, "um mir etwas vor Augen zu führen und mir gleichzeitig vom Leibe zu halten": die Tatsache nämlich, dass alle therapeutischen Anstrengungen, denen er sich unterzog, letztlich "fatal" waren, wie er sich ausdrückte. Sie waren imstande, ihm gute Zeiten zu verschaffen, wie er dankbar vermerkte - aber eine Heilung war mit ihnen nicht mehr verbunden.

Gernhardt sah sich in seinem Gedicht nach und nach zum Sterben "durchgewunken": "zuerst vom Kiez, / dann vom Heim, dann vom Hospiz". Seine satirischen Überspitzungen lassen gern vergessen, dass er gerade mit der Kraft seines Humors die großen Gegensätze verbinden konnte: Den Tod als das Ziel der Therapie zu bezeichnen, klingt grimmig - letztlich zeugt es davon, in welchem Maß Gernhardt es gelernt hatte, mit diesem Tod zu leben und ihn in sein Leben zu integrieren.

Nun zur Welt der Wissenschaft. In der vorherigen Ausgabe zeichnete Friedemann Nauck die 10-jährige Geschichte dieser Zeitschrift nach und ihre Bedeutung für die wissenschaftliche Etablierung des Faches Palliativmedizin. Das Erscheinungsdatum des Heftes fiel in die Zeit des 29. Deutschen Krebskongresses in Berlin, der auf eindrucksvolle Weise den realen Stand der Etablierung des Faches demonstrierte. Allein 24 Symposien führten den Begriff Palliativmedizin im Titel. Zudem konstituierte sich während des Kongresses die Arbeitsgemeinschaft für Palliativmedizin in der Sektion B der Deutschen Krebsgesellschaft. Trotz erheblich gestiegener Multidisziplinarität der Vortragsthemen, im Vergleich zu früheren Krebskongressen, bietet sich hierzu noch ein großer Handlungsspielraum, der zukünftig noch besser genutzt werden könnte. Dieser Hinweis darf auch als Bitte dafür verstanden werden, sich verstärkt mulidisziplinär mit Beiträgen für die Zeitschrift für Palliativmedizin einzubringen. Wer die Entwicklung der Zeitschrift verfolgt hat, sieht, auf welch gutem Weg zum Ziel der Multidisziplinarität sie sich befindet.

Davon zeugt auch die Themenvielfalt dieser Ausgabe, in der sich unter anderem Boris Zernikow komprimiert und pointiert einem wichtigen Thema zuwendet: der Spezialisierten Ambulanten Pädiatrischen PalliativVersorgung - in Zeiten emotionaler und intellektuell zumeist vergleichsweise wenig anspruchsvoll geführter Hartz IV-Diskussionen ein wesentlicher Beitrag und Hinweis auf die Vernachlässigung der Belange von Kindern.

Bei der Lektüre des vorliegenden Heftes wünsche ich Ihnen - stellvertretend für das Herausgeberteam - Erkenntnisgewinn und Vergnügen.

Manfred Gaspar