Zeitschrift für Klassische Homöopathie 2011; 55(2): 95-98
DOI: 10.1055/s-0030-1257619
Praxis
© Karl F. Haug Verlag MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Verifikationen, Falsifikationen, klinische Symptome

Carl Rudolf Klinkenberg
Further Information

Publication History

Publication Date:
18 July 2011 (online)

Dellwarzen – Tuberkulinum

Fall 1

Der 6-jährige Junge kommt am 15.3.2010 wegen multipler Dellwarzen an der rechten Brustseite und am rechten Oberarm seit vier Wochen. Die Dellwarzen waren am 7.3. vom Kinderarzt vollständig abgeschält worden und sind kurz darauf wiedergekommen.

Der Junge, dünn, sehr blass, ist unruhig, zappelig, kann sich schlecht konzentrieren und macht Fehler beim Abschreiben. Die Mutter sagt, er ist seit einem halben Jahr faul geworden und will oft seine Hausaufgaben nicht machen. Manchmal ist er bockig, wirft Gegenstände auf den Boden oder will sein Schulheft zerreißen. Er ist „süchtig“ nach Fernsehen oder Nintendo-Spielen, hat Angst in der Dunkelheit, sobald er allein ist. Seit einem Jahr schlechter Appetit, aber viel Durst; trinkt gerne Kaltes. Ausgeprägtes Verlangen nach Süßem. Er schwitzt nachts. Sobald er schläft, beginnt er am ganzen Körper zu „glühen“. Er hat oft feuchte Haare am Hinterkopf.

Befund: Haut trocken, zum Teil abradierte Zähne.

Eigen- und Familienanamnese: Als Kleinkind 4-malige 6-fach-Impfung. Im 5. und 6. Lebensjahr 3-mal Otitis. Mutter und Vater sind BCG-geimpft, der Ur-Großvater der Mutter hatte im Krieg Tuberkulose. Die Eltern stehen kurz vor der Scheidung.

Aufgrund der Gesamtheit der Symptome, v. a. dem Süßverlangen, der Appetitlosigkeit mit Durst und der nächtlichen Hitze gebe ich Sulfur C 200 (Gudjons) 1 Glob. (s. u. Repertorisation).

Die Dellwarzen verschwinden vollständig innerhalb von 3 Tagen. Aber 14 Tage nach der Einnahme bekommt er 3 neue Dellwarzen im Gesicht!

Einen Monat nach der Einnahme hat sich der Allgemeinzustand gebessert. Der Junge ist weniger eigensinnig und zornig, er hat weniger Verlangen nach Süßem. Er „glüht“ nicht mehr nachts, ist aber immer noch etwas heiß. Unruhe und Konzentrations­schwierigkeiten sind unverändert.


#

Mittelgabe und Dosierung

Tuberkulinum Koch C 200 (Gudjons) 1 Glob.


#

Begründung der Arzneiwahl

1. Repertorisation mit dem Pennekamp Kinderrepertorium (P) [13] und dem Kent-Repertorium (KD) [10]:

  • Haut, Warzen, Dellwarzen (P 495): Sulf.

  • Hyperaktive Kinder (P 85): Tub.

  • Konzentration schwierig (P 90): Sulf., Tub.

  • Faulheit, Abneigung gegen geistige Arbeit (P 69): Sulf., Tub.

  • Furcht vor Dunkelheit (P 75): -

  • Furcht vor Alleinsein (P 75): -

  • Süßigkeiten, Verlangen (P 573): Sulf.

  • Magen, Appetit fehlt, Durst mit (KD 421): Sulf.

  • Impfungen, allg. Beschwerden (P 519): Sulf., Tub.

2. Materia medica-Vergleich Tuberkulinum

Es gibt nur 5 verwertbare Arzneimittelprüfungen von Tuberkulinum, drei davon sind klein und eine Prüfung war am Kranken. Die meisten Tuberkulinum-Symptome sind klinische Symptome, die in der Sekundärliteratur überliefert werden. Für die vorliegende Arbeit wurden die Symptome soweit möglich auf primäre Arzneimittelprüfungen und Kasuistiken zurückgeführt:

  • A very restless feeling, not able to read with profit (Bac.)[1] [5: 260]. Intense restlessness; and inward restlessness [1: 502].[2]

  • Comprehension and concentration almost impossible [1: 502].

  • Aversion to all labor, esp. mental work [1: 502].

  • Very nervous and irritable... They are sulky, snappish, fretty, irritabel, morose (verdrießlich, schnippig, ... reizbar, mürrisch (Bac.) [8: 98,103]. Very irritable, want to fight; no hesitancy in throwing anything at any one, even without cause [1: 502].

  • Furcht vor Dunkelheit (G. W. Winterburn in [14]).

  • Craves cold milk, or sweets [3: 325].

  • Thirst for large quantities of cold water during chill and heat [7: 187]. Thirst: extreme, day and night [1: 510].

  • Sweat in the night. Much sweat, esp. on head in night [1: 527].

  • Warzen an der Fußsohle (Bac.) (F. Witzig in [14]).

  • „When the best selected remedy fails to relieve or permanently cure in a marked tubercular diethesis, with a tubercular family history.“ [1: 503]

„... Es ist angebracht, einige Bemerkungen über Tuberkulinum zu machen. Wenn in der Familiengeschichte eines Kindes Tuberkulose vorgekommen ist, empfiehlt es sich aus langer Erfahrung heraus, früher oder später bei der Behandlung eines solchen Kindes unabhängig von dem im spezifischen Krankheitsfalle angezeigten Heilmittel Tuberkulinum oder Bacillinum (C30, C100, C200, C500 und C1000) als Zwischengabe in vierwöchentlichen Abständen zu geben. ...Oft ...reicht auch eine einzige Gabe in 6 oder 12 Monaten ...zur Umstimmung ...aus.“ Douglas Morris Borland [6: 16]

„Es ist keine Hypothese, dass der 'Ansteckungsstoff' in einem konditionalen, nicht notwendig symptomatischen Ähnlichkeitsverhältnis zur chronischen Krankheit steht. Es ist auch keine Hypothese, dass er zu gewissen spezifischen Lokalsymptomen (gemeint sind Kondylome, Muttermale, Nagelveränderungen usw., A. d. V.) in einer konditionalen Beziehung steht. Das heißt: Bei der wissenschaftlich-homöopathischen Behandlung der chronischen Krankheiten können neben die symptomatischen Simillima noch die spezifischen Ansteckungsstoffe, die Nosoden treten.“ Will Klunker [12: 224]


#

Verlauf

Die Dellwarzen verschwinden innerhalb weniger Tage. Einen Monat nach der Einnahme ist die Unruhe etwa 50 % weniger, das Süßverlangen nochmals deutlich weniger geworden.

Nachbeobachtung: 1 Jahr.


#

Verifizierte Symptome

  • Dellwarzen.

  • Folgen von ererbter Tuberkulose der Vorfahren (Familiengeschichte von, Tuberkulose).

  • Folgen von ererbter Tuberkulose durch BCG-Impfung der Eltern (Familiengeschichte von, Tuberkulose, BCG-Impfung durch).


#

Fall 2

Das 4-jährige Mädchen kommt am 21.10.2010 wegen ca. 30 Dellwarzen seit Januar 2010. Die Dellwarzen sind auf Rücken, Brust und Bauch, weniger an den Extremitäten. Manchmal entzündet sich eine Warze und wird eitrig. Die Entzündung braucht 4–5 Wochen, bis sie ausheilt, aber die Warze bleibt und verschwindet nicht durch die Entzündung.

Das Mädchen hat außerdem eine Unverträglichkeit gegen Kuhmilcheiweiß, Sesam und Soja. Sie wurde im September 2009 zum ersten Mal gegen Diphtherie, Tetanus und Polio geimpft. Direkt nach der Impfung hatte sie leicht erhöhte Temperatur, sie war 3 Tage schwach und hatte eine Woche lang wieder eingenässt. In den Wochen nach der Impfung begannen die ersten Beschwerden der Nahrungsmittelunverträglichkeit: Sie bekam Bauchschmerzen, einen Blähbauch, Blähungen, Kopfschmerzen und Durchfall. Schließlich wurde im Februar 2010 die Unverträglichkeit diagnostiziert. Bis zur Impfung war das Mädchen völlig gesund gewesen.

Sie isst sehr gerne Nudeln, auch kalte, aber ohne Soße, sie liebt Joghurt, hat ein großes Verlangen nach Salami und isst gerne Würstchen. Sie isst sehr gerne rohes Gemüse, z. B. Radieschen, und hat großes Verlangen nach Gurken und Butter: Zum Beispiel isst sie die Butter von einer Brezel und lässt die Hälfte der Brezel übrig. Sie liebt Salz, salziges Essen zieht sie süßem vor.

Das Mädchen hat eine rege, blühende Fantasie und merkt sich erstaunlich genau die Details von Märchen. Sie schmückt Geschichten, die sie erzählt, lebhaft aus. Sie ist offen, neugierig, hat viele Freunde, auch ältere Kinder, und sie ist sehr „verkuschelt“. Sie ist schnell eingeschnappt, manchmal „zickig“. Furcht vor Geistern. Sie hört sehr gerne klassische Musik und erzählt, was sie beim Hören der Musik empfindet. Leben und Tod sind für sie Eins: Ganz selbstverständlich erzählt sie Erlebnisse, die beginnen mit: „Als ich schon mal gestorben war ... Als ich im Himmel war ... Als ich im Keller war und die Bomben sind gefallen ...“ Der Schlaf ist ruhig. Manchmal sagt sie: „Heute Nacht kommt ein schlimmer Traum“. Dann soll ihre Mutter alle bösen Träume „wegzaubern“. Sie ist extrem weitsichtig und trägt eine Brille mit 11½ (rechts) und 10½ (links) Dioptrien. Frostig, kalte Hände und Füße; kalt-feuchte Hände. Sie ist zart gebaut und nicht belastbar, ein längerer Spaziergang erschöpft sie sehr.

Befund: Multiple Dellwarzen am ganzen Körper, vorwiegend Rumpf, kleinere Dellwarzen an den Beinen. Hände feucht-warm, leicht vergrößerte Tonsillen.

Eigenanamnese: Zytomegalie-Infektion der Mutter in der Schwangerschaft. Geburt 4 Wochen vor Termin. Zahnung spät mit 11 Monaten. Frühes Sprechen, Laufen mit einem Jahr. Bis zum Ende des 3. Lebensjahres hat sie nachts eingenässt.

Familienanamnese: Vater: chronisch-rezidivierende Bronchitis mit Reizhusten, als Kind mehrfach geimpft und BCG-geimpft. Mutter: u. a. Ekzem, als Kind mehrfach- und BCG-geimpft; Tine-Test im Erwachsenenalter positiv. Mütterlicherseits: Brustkrebs der Großmutter; Immunozytom des Großvaters, Tuberkulose als Kind. Väterlicherseits: M. Parkinson des Großvaters.


#

Mittelgabe

Tuberkulinum Koch C 200 (Gudjons) 2 Glob. abends vor dem Schlafen.


#

Begründung der Arzneiwahl

1. Materia medica-Vergleich

  • Extremely sensitive to music [1: 503].

  • Fearful dreams; gloomy dreams (düster, bedrückend, A. d. V.); dreams of shame; cries out in dreams. ... Distressing frightful dreams ... [1: 526], [11: 163].

  • Frühes Sprechen, frühreif (geistig früh entwickelt) (N. Campbell in [14]),[3]

  • Furcht vor Geistern und Gespenstern [11: 163].

  • Vergrößerung der Tonsillen (Bac.) [5: 261]. Many enlarged glands [3: 326].

  • Verlangen nach Butter [11: 171].[3]

  • Verlangen nach Nudeln ohne Soße [11: 166].[3]

  • Verlangen nach Salami (G. Vithoulkas in [14]).

  • Verlangen nach Gurken [14].[3]

  • Tuberkulinum wird ein Drittel der Fälle von Bettnässen heilen“ (J. H. Allen in [14]).

  • Hands cold and dry...; or moist, damp, cold, clammy [7: 181–182]. Great coldness of hands and feet with general chilliness... Hands are cold to waist, as if plunged into ice water; cold sweat on palms of hands [1: 527].

  • Delayed dentition [3: 426].

  • Zarte, schwächliche, kränkelnde Kinder [8].

  • Impfung, Beschwerden nach Pockenimpfung [8: 60].

  • Familiengeschichte von Tuberkulose [1: 503], [8].

2. Repertorien-Vergleich

  • Ideen, Reichtum an (KD I 62): Tub.

  • Leicht beleidigt (SR I 791): TUB .

  • Musik hören, ständiges Verlangen (P 97): Tub.

  • Music amel. (BB 1133): Tub.

  • Salz, Verlangen (SR II 266): Tub.

  • Butter, Verlangen (P 564): Tub.

  • Urine, bed-wetting (BB 627): TUB.

  • Impfung, allgemeine Beschwerden (P 519): Tub.


#

Verlauf

Gleich in der ersten Nacht entzünden sich fast alle 30 Dellwarzen. Sie werden eitrig und blutig. Die Mutter hatte schon viele schnelle Heilungen durch Homöopathie erlebt. Doch diesmal ist sie restlos begeistert, sie sagt: „Das war echt irre. Wer nicht an Homöopathie glaubt, hätte das sehen sollen!“

Außerdem nässt das Kind 2 Nächte lang ein. Sie hatte nach ihrem 3. Lebensjahr immer dann wieder eingenässt, wenn sie einen Entwicklungsschub gemacht hat.

Innerhalb von 3 Wochen verschwinden jetzt alle Dellwarzen bis auf eine sehr große am Rücken. Das Mädchen erzählt allen: „Dr. Klinkenberg hat mit 2 Kügelchen meine Warzen weggemacht.“ 7 Wochen nach der Einnahme, entzündet sich auch die letzte Dellwarze am Rücken und verschwindet innerhalb einer Woche.

6 Monate nach der Mittelgabe, am 12.04.2011, hat sich ihre Sehkraft auf nur noch 1½ und 1 Dioptrien verbessert. Ihre Hände sind nicht mehr schweißig. Die Ernährungs­gewohnheiten fangen an, sich zu normalisieren - sie hat kein Verlangen mehr nach Salami und Gurken. Das Mädchen hat einen großen Entwicklungssprung gemacht, sie ist kritikfähiger geworden und nicht mehr so schnell beleidigt.


#

Verifizierte Symptome

  • Dellwarzen.

  • Rezidivierende eitrige Entzündung der Dellwarzen ohne Heilungstendenz (Dellwarzen, eitrige Entzündung, wiederkehrend).

  • Verlangen nach Butter, Nudeln ohne Soße, Salami, Gurken (hinweisende Symptome).

  • Folgen von ererbter Tuberkulose der Vorfahren.

  • Folgen von ererbter Tuberkulose durch BCG-Impfung der Eltern.


#
 
  • Literatur

  • 01 Allen HC. The Materia Medica of the Nosodes with Provings of the X-Ray (AN). Reprint Edition. New Dehli: B. Jain; 2002. (11910 Philadelphia, U. S.).
  • 02 Barthel H, Klunker W. Synthetisches Repertorium (SR). Band 1–3. 4.. Aufl. Heidelberg: Haug; 1992
  • 03 Boger CM. A Synoptic Key To Materia Medica (SK). Reprint Edition. New Dehli: B. Jain; 1994. (11915 Parkersburg, U. S.).
  • 04 Boger CM. Boenninghausen’s Characteristics And Repertory (BB). Reprint Edition. New Dehli: B. Jain; 1995. (11905 Parkersburg, U. S.).
  • 05 Boocock R. A Partial Proving Of Bacillinum. Homeopathic Recorder 1892; 7: 261
  • 06 Borland DM. Kindertypen. Übers. H. Zulla. Ulm/Donau: Haug; 1961. (11939 London „Children’s Types“).
  • 07 Burgess-Webster M. Tuberculinum. Homeopathic Recorder 1933; 3: 181-193
  • 08 Burnett JC. The New Cure For Consumption By Its Own Virus (BCC). 4.. Aufl. Reptint Edition. New Dehli: B. Jain; 1998: 21-118 mehrere Kasuistiken (11890 London).
  • 09 Clarke JH. Der Neue Clarke (CNC). Übers. P. Vint. Bielefeld: Silvia Stefanovic; 1990
  • 10 Kent JT. Kent's Repertorium der homöopathischen Arzneimittel (KD). Hrsg. u. Übers. G. v. Keller u. J. Künzli v. Fimelsberg. Bd. 1–3. 9.. Aufl. Heidelberg: Haug; 1986. (11897 Lancaster, U. S.).
  • 11 Klinkenberg CR. Zwei Tuberkulinum-Fälle. ZKH 2003; 47: 163-177
  • 12 Klunker W. Clemens von Bönninghausen und die Zukunft von Hahnemanns Miasmenlehre für die Behandlung chronischer Krankheiten. ZKH 1990; 34: 229-236
  • 13 Pennekamp H. Kinder-Repertorium (PKR). 2.. Aufl. Osten-Isensee: Pennekamp MDT-Verlag; 1999
  • 14 Seideneder A. Heilmittelarchiv. Bd. 1 S. 1710 ff., Bd. 6 S. 11543 ff. 1.. Aufl. Kandern: Narayana; 2008. (J. H. Allen, N. Campbell: Proceedings of the International Hahnemannian Association 1909; G. Vithoulkas: Complete Repertory Millenium Edition 2000)