Der Klinikarzt 2010; 39(6): 276-277
DOI: 10.1055/s-0030-1262341
Medizin & Management

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Interview – "Ärztemangel - eher ein Verteilungsproblem"

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Publication Date:
28 June 2010 (online)

 

Als diesjähriger Kongresspräsident der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) hat Prof. Jürgen Schölmerich* das getan, was die meisten Standesvertreter und Gesundheitspolitiker tunlichst zu vermeiden versuchen: Tacheles geredet. Unter anderem über die mangelnde Qualität des medizinischen Nachwuchses und die fehlende Wissenschaftlichkeit in der Ausbildung. Wir befragten Herrn Prof. Schölmerich zur Ausbildung und Qualität der angehenden Mediziner, zum Ärztemangel und den Lösungsideen der Politiker.

Prof. Jürgen Schölmerich

? Es gibt 5 000 offene Stellen in den Krankenhäusern. Die Zahl junger Ärzte nimmt, von 5,1 % im Jahre 2008 auf jetzt 4,5 %, weiter ab. Mehr als 21 % der Ärzteschaft sind heute über 60 Jahre alt, es fehlt der Nachwuchs. Wie ernst ist dieser Ärztemangel?

Prof. Jürgen Schölmerich: Ob es wirklich einen Ärztemangel gibt, muss durchaus hinterfragt werden, wenn man die Zahl der in Deutschland tätigen Ärzte zur Bevölkerungszahl in Beziehung setzt. Man kann wohl eher von einem Verteilungsproblem ausgehen und von einem Problem der Akzeptanz der derzeitigen Arbeitsbedingungen junger Ärzte in Krankenhäusern.

? Bundesgesundheitsminister Dr. Philipp Rösler will dieses Problem durch eine Neuregelung des Medizinstudiums lösen. Können mehr Studienplätze oder der Wegfall des Numerus clausus den Ärztemangel kurz- oder auch nur mittelfristig verbessern?

Schölmerich: Die Vorstellung, dies durch eine Neuregelung des Medizinstudiums lösen zu können, halte ich für ausgesprochen illusionär. Wir haben ja dreimal mehr Bewerber als Studienplätze, die Nachfrage ist also nicht das Problem. Zusätzliche Studienplätze sind in der derzeitigen ökonomischen Situation wohl nicht finanzierbar. Ein Wegfall des Numerus clausus verändert nur den Auswahlmodus - ich sehe nicht wie das den "Mangel" behebt.

? Wie würden sich solche Maßnahmen auf die Qualität des Studiums auswirken?

Schölmerich: Ohne zusätzliche Mittel würde selbstverständlich die Vermehrung der Studienplätze die Qualität des Studiums verschlechtern, da weder die Zahl der denkbaren Dozenten noch die Zahl der für die Lehre notwendigen Patienten beliebig zu vermehren ist. Nicht jeder Patient ist für den Unterricht geeignet, verständlicherweise ist auch nicht jeder Patient bereit, sich diesbezüglich zur Verfügung zu stellen.

? Bisher liegt die Ausbildung der Medizinstudenten am Krankenbett in Händen der Unikliniken. Würde es die Situation entschärfen, wenn mehr andere Krankenhäuser in die klinische Ausbildung mit einbezogen würden?

Schölmerich: Selbstverständlich könnte man Patienten aus nicht-universitären Krankenhäusern hinzuziehen - dies geschieht ja im Praktischen Jahr durch die Lehrkrankenhäuser durchaus. Es erscheint mir allerdings unwahrscheinlich, dass man motivierte Mitarbeiter an nicht-universitären Krankenhäusern findet, die sich dem praktischen Studentenunterricht am Krankenbett widmen, ohne diesbezüglich zusätzlich entlastet oder entlohnt zu werden.

Ganz unklar ist auch, inwieweit dies einen Qualitätsverlust zur Folge hätte - ich gehe davon aus, dass die Kollegen, die sich für Lehre aktiv interessieren oder engagieren, im Wesentlichen an den Universitätskliniken tätig sein werden und eben nicht in den anderen Krankenhäusern.

? Der Marburger Bund fordert eine deutliche Verbesserung der Qualität der Lehre: Mehr Praxisbezug, Überprüfung der Prüfungsinhalte und Orientierung am Ausbildungsziel. Sie kritisieren, dass es dem Nachwuchs an Qualität mangelt, weil es der Ausbildung an Wissenschaftlichkeit fehle - es werde zu wenig Pathophysiologie und experimentelle Herangehensweise vermittelt! Und Bundesärztekammerpräsident Prof. Jörg-Dietrich Hoppe hat jetzt gerade auf dem Deutschen Ärztetag das Gegenteil gefordert. Das Medizinstudium müsse im Sinne der kurativen Medizin durchlüftet und endlich praxistauglich werden. Das sind sehr konträre Standpunkte!

Schölmerich: Bei allem Respekt vor dem Marburger Bund halte ich dieses Konzept wirklich nicht für zielführend. Das Studium nähert sich dramatisch einer Fachhochschulausbildung, also einer reinen Berufsvorbereitung.

Selbstverständlich ist Medizin keine reine Wissenschaft, sondern auch und unbedingt Kunsthandwerk. Es müssen daher beide Elemente der Ausbildung, also Wissenschaft und Kunsthandwerk betont werden und sich gleichgewichtig gegenüberstehen. Die derzeitige Ausbildung auf dem Boden der gültigen Approbationsordnung ist sehr praxisorientiert, in meinen Augen eher zu praxisorientiert.

? Auch Ärztepräsident Hoppe plädiert dafür, dass bei den Zulassungskriterien zum Medizinstudium der Notendurchschnitt nicht überbewertet wird. Werden persönliche Motivation und soziales Engagement zu wenig berücksichtigt?

Schölmerich: In der Tat wird seit Jahrzehnten darüber diskutiert, ob die Noten des Abiturs geeignete Zulassungskriterien zum Medizinstudium darstellen. Ganz sicher lässt sich aus den Noten nicht ablesen, ob jemand ein guter Arzt wird. Ich vermag nur kein anderes Kriterium zu finden, das zum einen praktikabel und zum anderen aussagefähig ist.

? 60 % der Bewerber könnten die Hochschulen nach eigenen Kriterien auswählen. Haben die deutschen Hochschulen diese Möglichkeit nur unzureichend genutzt? Fehlt da, wie Hoppe auf den Ärztetag meinte, frischer Wind an Deutschlands Universitäten?

Schölmerich: Die deutschen Hochschulen könnten zwar 60 % der Bewerber nach eigenen Kriterien auswählen - wenn man aber die Wahlfreiheit der Studenten aufrechterhalten will, müsste man tolerieren, dass diese sich an mehreren Hochschulen bewerben. Wenn dann alle Bewerber an den Hochschulen tatsächlich interviewt werden müssten, würde dies einen enormen Zeitaufwand bedeuten und ich bin mir nicht wirklich sicher, ob ein 20-minütiges Interview mehr Aufschluss über die späteren Qualitäten eines Studienkandidaten gibt als die Abiturnoten.

Dass die bisherigen Zulassungssysteme durchaus einen Selektionscharakter haben, zeigen die geringen Durchfallquoten bei den Examina. Wir werden in meinen Augen das Problem der fehlenden Ärzte in ländlichen Bereichen nicht dadurch lösen, dass wir die Zulassungsbedingungen zum Medizinstudium ändern.

? Das Interesse für den Hausarztberuf müsse bereits während des Studiums geweckt werden, forderten die Delegierten des 113. Deutschen Ärztetags. Medizinische Fakultäten ständen in der Pflicht, an allen medizinischen Hochschulen Lehrstühle für Allgemeinmedizin einzurichten, damit Studierende sich in diesem Fachgebiet weiterbilden könnten.

Schölmerich: Ich halte von Lehrstühlen für Allgemeinmedizin an allen Fakultäten wenig, Lehrpraxen und Famulaturen in Praxen sind aber sicher nützlich. Ein universitärer Lehrstuhl impliziert, dass auch geforscht wird und dies ist im Bereich der Allgemeinmedizin bisher eher eine Ausnahme.

? KVen und Krankenkassen unterstützen die Weiterbildung zum Hausarzt bereits mit Stipendien. Ist dies vernünftig?

Schölmerich: Die Bemühungen von KVen und Krankenkassen, mittels Stipendien Studenten auf den Weg zum Hausarzt zu bringen, sind durchaus vernünftig, inwieweit dies erfolgreich sein wird, bleibt abzuwarten.

? Darf eine Landarztquote bei der Zulassung zum Medizinstudium ein Auswahlkriterium sein? Ist es vertretbar, wenn Studienplätze für Abiturienten mit schlechterem Abiturschnitt oder Personen ohne Abitur reserviert werden, die sich verpflichten, sich nach Studium und Ausbildung auf dem Land niederzulassen?

Schölmerich: Ich halte eine Landarztquote als Auswahlkriterium für einen akademischen Studienplatz nicht für adäquat. Wenn Medizin auch ihren Wissenschaftscharakter behalten soll, brauchen wir eine positive Selektion wie bisher.

? Wenn von Ärztemangel die Rede ist, ist meist der Hausarztmangel gemeint. Von den insgesamt 42 000 Ärzten, die bis 2015 aus Altersgründen der Versorgung verloren gehen, sind 21 000 Fachärzte. Es werden also nicht nur Hausärzte, sondern auch bestimmte Fachärzte fehlen. Haben wir heute schon in den Kliniken einen Facharztmangel, über den, weil politisch nicht opportun, geschwiegen wird? Wie sieht es in der Inneren Medizin aus? Z. B. in Spezialgebieten wie der Gastroenterologie, Kardiologie oder Onkologie?

Schölmerich: Wie ich eingangs festgestellt habe, bin ich nach wie vor nicht sicher, dass wir einen Ärztemangel haben, wir haben eher ein Verteilungsproblem. Angesichts der zahlreichen Kollegen, die sich an Kliniken in Weiterbildung befinden, dürfte ein Facharztmangel eigentlich nicht auftreten, ich sehe das Problem auch tatsächlich nicht, auch nicht in den von Ihnen genannten Spezialgebieten. Nebenbei bin ich der Meinung, dass beim Ausscheiden von 42 000 Ärzten in 5 Jahren und einer Studienabsolventenquote von etwa 8 000 Studenten das Ganze doch ein relativ ausgeglichenes System wäre, wenn die Arbeitsbedingungen so wären, dass die jungen Leute tatsächlich auch in die kurative Medizin eintreten.

Herr Prof. Schölmerich, wir bedanken uns für das Gespräch!

Das Interview führte Anne Marie Feldkamp, Bochum

* Prof. Jürgen Schölmerich ist ärztlicher Direktor der Universitätsklinik Regensburg und wird ab Oktober dieses Jahres Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender am Universitätsklinikum in Frankfurt sein.

Bild: CD 07 Anatomy of Medicine