Der Klinikarzt 2010; 39(7/08): 321
DOI: 10.1055/s-0030-1265813
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Logische Ideen müssen nicht immer richtig sein

Achim Weizel
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
23. August 2010 (online)

Es gibt Vorstellungen in der Medizin, die teilweise seit Jahrzehnten weitgehend unkritisch weitergegeben werden, weil es unwahrscheinlich scheint, dass sie nicht richtig sein könnten. Dazu gehört das Postulat, dass Vorbeugen besser ist als Heilen, was bedeutet, dass die Früherkennung bzw. die Erkennung und Behandlung von Frühformen, zu einer Senkung der Mortalität der betreffenden Erkrankung führt. Diese scheinbar logischen Prämissen haben vor allem in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts in vielen Ländern zur Einführung von Vorsorgeprogrammen geführt, die insbesondere von den Fachgesellschaften intensiv propagiert werden. Dies gilt für das Mammografie-Screening, die Vorsorgeuntersuchungen zur Früherkennung des Prostatakarzinoms (PSA-Test) sowie die Darmkrebsvorsorge mittels Untersuchung auf okkultes Blut im Stuhl.

In den letzten Jahren sind viele Diskussionen entstanden, nachdem sich herausgestellt hat, dass einige der Daten, die den Vorschlägen zugrunde liegen, den heutigen Anforderungen nicht genügen. Ganz deutlich ist dies beim Mammografie-Screening der Fall, über dessen Sinnhaftigkeit von Befürwortern und Gegnern heftig polemisiert wird.

Auslöser der jüngsten Kontroverse ist eine Studie aus Dänemark, die bei Frauen zwischen 55 und 74 Jahren die Brustkrebsmortalität untersuchte. Verglichen wurden Bezirke, in denen ein Screening durchgeführt wurde mit Bezirken ohne Screening-Programme. In beiden Bezirken kam es in einer 10-Jahres-Periode zu einem Rückgang der Mortalität, jedoch ohne signifikanten Unterschied zwischen den beiden Gruppen [1]. Interessanterweise wurde auch ein Rückgang in der Gruppe von Frauen zwischen 35 und 55 Jahren registriert, die zu jung waren, um vom Screening zu profitieren. Dies legt den Schluss nahe, dass die Mortalitätssenkungen unabhängig vom Screening auch durch Änderungen des Lebensstils und Verbesserungen der Behandlung verursacht sein können. Untersuchungen aus Großbritannien erhärten die These, dass durch das Screening keine Beeinflussung der Mortalität erfolgt. Aufgrund von dort erhobenen Befunden müssen 1610 Frauen untersucht werden, um einen Krebstodesfall zu verhindern [2]. Bei diesen Zahlen scheint ein Screening nicht vertretbar.

Eine ähnliche Problematik zeigt sich bei den Vorsorgeuntersuchungen zur Früherkennung des Prostatakarzinoms mithilfe der PSA-Wert-Bestimmung. Auch diese Untersuchung wird seit Jahrzehnten von den Fachgesellschaften intensiv propagiert und auch hier deuten neue Zahlen darauf hin, dass die Datenbasis wohl nicht ausreicht, um diese Maßnahmen zu rechtfertigen. Wegweisend ist hier eine Untersuchung aus den USA [3], in der 38 000 Männer entweder jährliche Vorsorgeuntersuchungen (PSA, rektal-digitale Untersuchungen) durchführen ließen, oder – ebenfalls 38 000 Männer – „usual care“, sprich normale Betreuung ohne Vorsorge, erhielten. Pro 10 000 Personenjahre traten in der Screening-Gruppe 2,0 Todesfälle auf, in der Kontrollgruppe 1,7, ein statistisch signifikanter Unterschied ließ sich nicht nachweisen. In einer europäischen Studie wurde zwar die Mortalitätsrate durch das Screening um 15 % gesenkt. Aufgrund der Daten dieser Studie müssten 1410 Männer untersucht und 48 behandelt werden, um einen Tod an Prostatakarzinomen zu verhindern. Hinzu kommt, dass eine große Zahl von Männern therapiert wurde, bei denen die Krankheit wahrscheinlich nie zu klinischen Symptomen geführt hätte. Bis zu 50 % in der Screening Gruppe fielen in diese Kategorie, was einleuchtet, da das Prostatakarzinom in der Regel eine Erkrankung älterer Männer ist und eine sehr lange Laufzeit hat.

Hier scheint eine gezielte Suche nach Risikopersonen, z. B. Angehörige von Prostatakarzinom-Patienten sinnvoller zu sein als ein breit angelegtes Massenscreening-Programm.

Wesentlich besser schneiden in diesem Zusammenhang die Vorsorgeuntersuchungen zur Darmkrebsprophylaxe ab. Durch die Testung auf okkultes Blut konnte die Kolonkarzinom-Mortalität um 15–30 % gesenkt werden. Eine weitere Verbesserung erfolgt durch den Einsatz von Sigmoidoskopie beziehungsweise Koloskopie, da hier Diagnostik mit aktiver Prophylaxe (Polypektomie) kombiniert wird. Virtuelle Koloskopie und Stuhl-DNA- Screening führen zu einer zusätzlichen Verbesserung der Prognose.

Die ursprüngliche, verständliche Begeisterung über Früherkennungs-Maßnahmen ist zumindest bei der Mammografie und bei der PSA-Testung einer deutlichen Skepsis gewichen. Hier müssen überzeugendere Daten vorgelegt werden, um die offensive Strategie der Fachgesellschaften zu rechtfertigen. Die Kolonkarzinom-Prophylaxe hingegen steht heute auf einer wesentlich sichereren Grundlage und sollte auf breiter Basis durchgeführt werden.

Literatur

Prof. Dr. med. Achim Weizel

Mannheim

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